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Herrschaft über den Film

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Die jüngst veröffentlichten Besucherzahlen aus den Wiener Kinos — 28 Millionen im ersten Halbjahr 1948 — zeigen mit alarmierender Deutlichkeit die Anziehungskraft des Films. Um sie zu beurteilen, genügen weder künstlerische noch moralische Erwägungen. Der Film kümmert sich um sie nicht — Ausnahmen fallen kaum ins Gewicht — und der durchschnittliche Kinobesucher richtet sich ebenfalls nicht nach ihnen. „Der Prozeß“ oder „Das andere Leben“, Filme, die einhellig als künstlerisch gut und moralisch sauber bezeichnet wurden, hatten ein sehr geringes Publikum. Vor den Kassen der Kinos aber, in denen ein Film mit dem unüberbietbar albernen Titel „Mach’s exotisch — nicht erotisch" läuft, bilden sich in glühender Sommerhitze Menschenschlangen, und um „Macadam“, „Mit Lasso und Revolver“ und ähnliche Erzeugnisse sehen zu können, lieferten sich die zumeist jugendlichen Besucher Schlachten um die Eintrittskarten.

Denn diese Filme galten als „interessant". Und als interessant gilt alles, was aus der Ordnung tritt, überraschend, abnorm oder auch unheimlich ist. Was man alles mit dieser Bezeichnung belegen kann, illustriert ein Satz, der vor einigen Wochen in einer Besprechung eines deutschen Nachkriegsfilms zu lesen war: „Interessant, wenn auch zu sehr ausgespielt, sind die Aufnahmen des sterbenden Kindes, dessen Gesicht langsam wirklich wächsern und durchscheinend wird.“ In diesen wenigen, übrigens durchaus „photogenen“ Worten 'piegelt sich die ganze „abstrakte Grausamkeit“ wider, die Ernst Jünger in den Lichtspielhäusern beobachtet hat und für deren Existenz der Krieg schauerliche Bestätigungen erbracht hat. Dieses für unsere Zivilisation charakteristische Phänomen und seine Entstehung zu verfolgen, ist Sache des Kulturpsycho- logen. Hier ist nur festzustellen, daß es vor und an der Filmleinwand geradezu gezüchtet wird.

Es ist zu beachten, daß das Interessante, versucht man es nach den Gesichtspunkten des Guten oder Schönen zu bewerten, sehr oft negative, öfter noch indifferente, selten nur positive Urteile bewirkt. Umgekehrt erscheint das Negative fast immer, wenigstens für das Verständnis des modernen Menschen, als interessant. Ist es das aber, so besitzt es alle Reize der Sensation, und der Großstadtmensch, vor allem wenn er jung und unkritisch, für Reize daher an sich schon empfänglich ist, wird sie ohne weiteres aufnehmen, um so mehr, als es ja die ganze Welt um ihn tut. Wenn er also in einem krassen Fall den Verbrecher und das Verbrechen der Filmleinwand nachahmen sollte, so deshalb, weil es ihm der Film interessant gemacht hat, interessanter jedenfalls, als den Detektiven und dessen Handlungen, die ja nur eine reizlose Ordnung vertreten.

Damit ist die Anziehungskraft des Films vielleicht begreiflich geworden; es sei nun auf einige Gesetze hingewiesen, die seine Wirkungen bestimmen. Daß der Film die suggestive Kraft eines intensiv erlebten Traumes besitzt, wurde schon oft bemerkt; wenn nach Schluß der Vorstellung der Raum hell wird, erwachen die Zuschauer wie aus einem Traum: sie reiben sich die Augen, sind für einige Minuten verwirrt und empfinden die Wirklichkeit als störend und schal. Gleich dem Traum macht der Film den Zuschauer wehrlos. Die übertriebene Deutlichkeit, die schnelle Abfolge der Bilder und Geräusche, die Großaufnahme und die stets wechselnde Handlung: es fällt selbst dem kritisch geschulten Verstand schwer, bei klarem Bewußtsein seiner selbst zu bleiben. Der nicht Kritische aber nimmt hin, was ihm die Leinwand zeigt, ohne noch die Fähigkeit der Beurteilung zu besitzen. Er fordert nur, daß es interessant und der Film „gut gemacht“ sei, das heißt keine illusionsstörenden Elemente enthalte.

Die Suggestivkraft des Films ist so stark, daß sie den Zuschauer zwingt, sich mit den scheinlebendigen Figuren der Leinwand zu identifizieren. Dieser Zwang zur Identifikation ist jedem Kinobesucher bekannt. der sich und seine Umgebung während der Vorführung beobachtet. Der Zuschauer gibt ihm willig nach, denn wenn er sich mit dem Filmhelden oder der Heldin — sei es ein Boxer, ein Musikvirtuose oder ein Verbrecher, eine Krankenschwester oder eine Dirne — identifiziert, steigert er sich gewissermaßen vor sich selbst zu einer interessanten Persönlichkeit. Beweise für diese unheimliche Wirkung des Films liefern die Aussagen, die einige jugendliche Verbrecher vor Gericht abgaben! sie führten zur Erklärung ihrer Taten an, daß sie diesen oder jenen Kriminalfilm gesehen hätten und dessen Verbrechen „wie unter einem Zwang“ imitiert hätten.

Es ist leicht einzusehen, daß die oftmals erlebte Illusion, der gerne empfundene und daher immer wieder aufgesuchte Zwang zur Identifikation nicht ohne Folgen bleiben können. Sie trüben die Bewußtseinsklarheit des Menschen und setzen sein kritisches Vermögen herab. Deshalb ist es möglich, daß bösartige, ja selbst schlechthin dumme Filme größeren Zulauf finden als solche, die gut gemeint sind und sich dem Range eines Kunstwerks nähern. Noch einmal sei auch auf die Förderung jener abstrakten Grausamkeit durch den Film aufmerksam gemacht, die nichts anderes ist, als eine außerordentliche Gefühlskalte, die — es muß immer wieder gesagt werden — jede moralische und ästhetische Regung einfrieren läßt und der kinosüchtigen Masse lemurische Züge verleiht. Das sind freilich vorläufige und recht ungenaue Auskunfs- mittel, die allein nicht genügen werden. Der Film übt ja eine Macht aus, der nichts Gleichwertiges an die Seite gestellt werden kann, und ärger noch, diese Macht entzieht sich jeder Kontrolle. Das Theater, die Literatur und selbst die Presse sprechen vergleichsweise zu einem wenig umfangreichen Personenkreis, der eine nicht zu unterschätzende Kontrollfunktion besitzt. Der Film aber’wendet sich an Massen, deren von Natur aus geringes Kritikvermögen er weiter vermindert; er kann, wenn er sich nur an gewisse Spielregeln hält, tun, was er will, und die Millionen und Milliarden, denen er zu einem unabweislichen Bedürfnis geworden ist, werden ihm willig folgen. Der Film kann — und er hat es in der Tat getan — die Massen in Schlachten und zu Exzessen des Rassen- und Völkerhasses treiben, das Verbrechen verherrlichen, und fiele es einem Filmtrust ein, eine neue Religion zu „kreieren“ oder einen Staat zu stürzen — er fände für seine neue Religion Anhänger und er könnte den Staat stürzen.

Es geht nicht an, die Dinge treiben zu lassen, wie sie treiben und im übrigen zu hoffen, daß sich von selbst alles zum Guten fügen werde. Es muß vielmehr dem Menschen gelingen, die Herrschaft über den Film zu erringen, sonst wird die Herrschaft des Films über den Menschen eine vollständige werden. Es gilt für alle: der Mensch ist bedroht!

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