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Die Erblindung des Amtlichen

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In einem vorhitlerischen deutschen Kleinstaatparlament war an einem heißen Sommernachmittag eine Plenarsitzung anberaumt. Das Parlament lag am Ufer eines Flusses, an dessen Ufer zahllose Badende wimmelten. Ein vernünftiger Portefeuilleträger brachte vor Eingehen in die Tagesordnung den Antrag ein, die Verordnung, die das Baden an diesem Ufer untersagte, aufzuheben, und zog gleichzeitig die Vorhänge zur Seite, so daß das gesamte Parlament mit Erstaunen feststellen konnte, daß behördliche Verbote umgangen werden. — Und die Verordnung wurde einstimmig aufgehoben.

Hätte man sie mit Polizeigewalt durchgesetzt, wäre nur mit Haß erwidert worden; hätte man den Zustand belassen, wäre die Staatsgewalt lächerlich geworden und ein Verlust in jener Bilanz aufgetreten, die man nicht aufzuzeichnen pflegt, die aber schwerwiegender als strikte Sanktionen wirkt: Prestige und Autorität.

Diese Erblindungserscheinung im öffentlichen Leben ist wahrscheinlich nur eine sekundäre, eine, die ein Arzt, dem es mehr um die Diagnose als um die Therapie zu tun ist, mit jenem zufriedenen Ernst feststellen würde, den nur die Bestätigung der vorgefaßten Überzeugung verleiht. Ähnlich auch einer Erblindung im menschlichen Organismus, die zwar nur die Folge einer inneren und schwereren Erkrankung sein kann und doch fürs erste viel lähmender wirkt als die Ursache selbst. — Jeder Beobachter wird heute erkennen können, daß alles Amtliche sich gegen tausend Erscheinungen der praktischen Tatsächlichkeit blind verhält, sie einfach nicht akzeptiert.

Man könnte Bücher mit Beispielen füllen. Es beginnt im Kleinsten: wenn man in Österreich amtlicherseits einfach nicht zur Kenntnis nahm, daß im vergangenen Jahr alle bewirtschafteten Lebensmittel in jedem Laden frei verkauft wurden — und man andererseits heute noch einen Strafprozeß gegen einen kleinen Bauern erleben kann, der kurz vor der offiziellen Liquidierung der Bewirtschaftungsgesetze sich ein Schwein auf eigene Faust schlachtete. Zu einer Zeit also, wo man — genau genommen — mindestens halb Österreich hinter Schloß und Riegel hätte setzen müssen. Die Aufmerksamkeit für den kleinen Bauern — nach dem Dezimierungssystem der Landsknechtszeit etwa — nahm anscheinend die ganze Kapazität der öffentlichen Gewalt in Anspruch. Oder wollte sie das zahllose Heer der übrigen Gesetzesübertreter durch stichprobenartige Überfälle einschüchtern? Oder meinte die ausübende Gerichtsgewalt, die nachhinkende Legislative der mildernden Korrektur passiver Resistenz unterziehen zu müssen?

Aber es reicht durch alle Sparten öffentlichen Lebens, durch alle Regierungsformen bis in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. (Fall China!)

Hier erweist sich die fragwürdige Bedeutung juristischer Fiktionen, nach denen es möglich ist, daß ein Staat, ein Gesetz manchmal ein halbes Jahrhundert hindurch nicht einmal mehr ein Schattendasein führt und dann plötzlich wieder auflebt. Und dabei sicherlich ein neues Wesen ist, wenn ihn die Fiktionslehre auch als den auferstandenen Scheintoten begrüßt (einen, der ihre Lehre von der Möglichkeit des Scheintodes bestätigt). — Wie unnennbar groß aber ist der Friedhof aller jener Fiktionen, die nie ihr Pseudodasein gerechtfertigt sahen: überlebter Formalismus j Gesetze, längst nicht mehr up to date; unbeachtet über Bord geglittene Verordnungen und Verträge. Der Friedhof, auf dem eine Beerdigung allmählich und in Jahren, in Jahrzehnten vor sich geht, die Leichname still und verborgen zu Grabe getragen werden, weil die trauernd Hinterbliebenen den Spott der aktuellen Tagesmeinung fürchten und insgeheim selig sind, daß man ihre Fiktionen längst vergessen hat.

Dies alles soll keinerlei Polemik oder Kritik aus Ressentiment sein, interessant scheinen lediglich die Ursachen der Erblindung. Daher fällt die totalitäre Staatsform als sprechendes Beispiel in die Augen. — Der totalitäre Staat ist der total amtliche. Seinem Wesen entspricht eine widerspruchslose Unduldsamkeit der Vielfalt und Unberechenbarkeit menschlichen Daseins gegenüber. Seine Organe sind in militanten Puritanismus hineinerzogen und — diktiert. Der Untergang dieses Staates ist beschlossen, wenn seine monomanische Struktur Risse oder Sprünge aufweist. Seine Souveränität, die sich sämtlicher allgemein menschlichen Verpflichtungen entbunden glaubt, ist eben von einer inhumanen Größe, wobei die Borniertheit ihrer Organe natürlichem Selbsterhaltungstrieb entspringt. Hier erscheint der Ekel des Objektiven vor der Flut subjektiver Artungen verständlich. Hier muß eine Norm statuiert werden, die es sich nicht leisten kann, outsider neben sich zu dulden. — Hier aber nimmt doch die öffentliche Gewalt das Nichtgefügige wahr und rottet es rücksichtslos aus. Und hinter jedem anscheinend unbelehrbar utopischen Redner, der offizielle Schlagworte über das zusammengetriebene Volk schreit, steht ein Agent der Geheimpolizei, der die Widerspenstigen zur Liquidierung vormerkt.

Blind ist also nur das Amtliche jener Staaten, die gemäßigt genug sind, sich nicht vor jeder individuellen Regung zu ängstigen; aber noch immer genug selbstherrlich, um es unbeachtet übergehen zu können.

Und hier scheint der Ekel des internen Amtsreglements vor dem Unsystematischen, das dem Schema nur schwer willfährig ist, kaum entschuldbar. — Es ist symbolisch, daß manche Beamte die Parteien durch Schalter abfertigen, bei denen sie nur den zu sehen bekommen, der gerade seinen Kopf durch den winzigen Ausschnitt steckt. Oder in manchen städtischen Verwaltungsbehörden gar nicht zur Kenntnis nehmen, daß vor ihren durch einen bärbeißigen Zerberus gehüteten Türen hundert demütige Bittsteller Stunde um Stunde verwarten, weil schließlich der sakrosankte Amtsvorgang Entelechie besitzt. Das mangelnde Vermögen, die Tatsächlichkeit rückhaltlos zu akzeptieren und auf ihrer Basis zu kalkulieren, um eine Spur klarsichtiger zu sein, erklärt ja auch, warum jeder verstaatlichte Betrieb Passivsalden in der Bilanz aufweist.

Es ist selbstverständlich, daß ein Bittsteller sich dem Dienstweg bequemen muß, aber die Agenden jener unzähligen Sparten, in denen eine milde Lücke im Reglement den amtlichen Organen freien Lauf läßt, werden mit derselben amtlichen Konsequenz vollzogen wie die der strikt geregelten. — Es mag noch so heftigst debattiert werden: Konferenzen verlaufen meistens gleich — insofern nämlich, als sie bis zum Eigentlichen nicht durchdringen.

Fast möchte man meinen, es sei dem Amtlidien widerwärtig, den geordneten, objektiven Gang der Dinge mit all der Not, Schmach, all dem Leid, der Erniedrigung und all den erzwungenen Verzichten jener, durch die das Amtliche erst existiert, zu besudeln. Ja jene, durch die das Amtliche erst existiert, die die blinde Gewalt in einer — allerdings imaginären — Zeit beauftragt haben, ihre Bedürfnisse zu warten. — Es sind ja auch dieselben Menschen, die mit dem Büromantel ein System steriler Funktionen angezogen haben; Funktionen eines Lebens, das immer wieder in sich zurückkehrt, zielvergessen und uneingestande-nermaßen Selbstzweck vortäuschend.

Die einzige Gewalt, der eine objektive Forderung zusteht, weil sie sich in ihrer Existenz und auch in ihren Forderungen auf Gott bezieht, die Kirche, hat jederzeit und für jeden offene Arme, wie ungeordnet und persönlich auch immer sein Anliegen an diese amtliche Instanz sein mag. Von der für Laien an sich belanglosen internen Organisation ist kaum etwas zu merken: das Amtliche wirkt im Geheimen, aber die Kirche nimmt alles wahr und weiß, daß der Stil des Amtlichen meistens nicht durchdringt und handelt im Stil der klugen Anpassung.

Wie alle Funktionen des menschlichen Körpers dienend mitwirken müssen, damit sich die höheren menschlichen Handlungen richtig entfalten können, müßte sich audi das Amtliche eines Staatskörpers geheim und selbstlos erweisen; etwas, dessen Notwendigkeit unbestritten ist, das aber nur an seinen Wirkungen spürbar sein dürfte — denn es erblindet, sobald es meint, durch alle fremden, vielfältigen Einflüsse (derentwegen es ins Leben gerufen) in seinem normalen Verlauf gestört zu werden — sich abkapselt und ein Dasein führt, das die Wichtigkeit in der Erhaltung des unbedingt korrekten Eigendaseins sieht.

Und merkt über allem nicht, daß es eine unerquickliche Farce geworden ist.

Ein Konto, das man nicht aufzuzeichnen pflegt: Prestige und Autorität.

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