Fußball und Córdoba: Idole zum Anbeten und zum Entweihen
Der Literat und FURCHE-Feuilletonchef György Sebestyén über die Frage, warum die Fußballweltmeisterschaft 1978 tiefe archaische Wunschvorstellungen befriedigt.
Der Literat und FURCHE-Feuilletonchef György Sebestyén über die Frage, warum die Fußballweltmeisterschaft 1978 tiefe archaische Wunschvorstellungen befriedigt.
Wenn die eigene Fußballmannschaft irgendwo auf einem fernen Konfluent einen für mächtig gehaltenen Gegner besiegt, dann sind in jeder Schenke jedes Dorfes in der Heimat die Männer glücklich. Wenn die lieben, umschwärmten, verzärtelten Fußballspieler verlieren, dann bricht für die kleine Männerwelt im Wirtshaus eine Welt zusammen. Vorwürfe, Beschuldigungen, Verdächtigungen werden ausgesprochen; mächtig toben da der Zorn und die Verzweiflung. Zur Zeit der gegenwärtigen Fußballmeisterschaft in Argentinien brechen atavistische Triebe auf, aus verschütteten Quellen springen Leidenschaften hervor, aus der Verdrängung durch das rationale Weltbild einer utilitaristisch ausgerichteten Gesellschaft erhebt sich mit Kraft der archaische Mensch.
Warum ist die Frage nach Sieg oder Niederlage so wichtig? Weil sich die Gemeinschaft mit den Kämpfern identifiziert. Das Kollektiv bildet eine neue Qualität, die ihre eigenen Gesetze hat: Leidenschaft wird durch die Gemeinsamkeit des Empfindens potenziert, die Grenzen der gewohnten Einsamkeit werden aufgehoben, eine Konzentration findet statt: eine Konzentration des Einzelnen auf das Ergebnis des Wettkampfs, eine Konzentration der ganzen Gruppe auf ein einziges Ereignis. So verwandelt sich Gruppe, vorübergehend, in Gemeinschaft. Das Kollektiv gelangt durch die Metamorphose zu einem neuen Aggregatszustand. Die Sprache erhellt den Zusammenhang zwischen Schwarm und schwärmen.
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Erneuerung im Quantum
Durch das Fernsehen ist dieser Prozess beschleunigt worden; er hat zudem eine größere Intensität erreicht und auch eine Beteiligung von viel mehr Menschen am kultischen Ereignis ermöglicht. Eine qualitative Änderung in der Rezeption des Kampfes hat es indessen nicht gegeben. Die Erneuerung vollzieht sich im Quantum. Denn Wettkämpfe dieser Art waren bereits im zweiten vorchristlichen Jahrtausend Schau-Spiele gewesen mit der archaischen Rollenverteilung zwischen den Aktiven und den Passiven.
Aktiv waren und sind die Mannschaften, die einzelnen Fußballer, die Betreuer und die führenden Figuren des Kultes. Sie gewinnen in der kollektiven Phantasie die Eigenheiten mythischer Gestalten. Das Mythos aber hat sein Eigenleben, besitzt eine Gesetzmäßigkeit ganz eigener Art. In das Mythos werden Dinge miteinbezogen, die außerhalb der Ratio liegen und nur für das fühlende Erfahren der Welt einen Wert besitzen. Einen solchen gefühlsmäßigen Wertzuwachs konnte sich der argentinische Fremdenverkehr und auch die argentinische Staatsführung zunutze machen. Plötzlich wendet sich das Interesse einem Lande zu. Der vorläufig tadellose Verlauf der Meisterschaft zeugt nicht nur von Ruhe, sondern auch von der Fähigkeit, komplizierte Vorgänge zu organisieren. Ruhe und Organisation sind aber zivilisatorische Werte: in ihnen kommt eine gesellschaftliche Qualität zum Ausdruck, nämlich der Triumph des Menschen über das Chaos. Der Zuschauer identifiziert sich nicht nur mit den Schauspielern selbst, sondern auch mit der Szenerie des Spiels: er ist ja im Gedanken dort, in der Arena. Seine Phantasie führt ihn nach Argentinien. Kein Wunder, wenn er dann Lust hat, dem Phantasiebild zu folgen und eines Tages selbst nach Argentinien zu reisen.
Der General in der Uniform der Masse
Aber auch der Präsident der Republik vermochte, bei der Eröffnung, eine fultische Rolle zu spielen. Er, der Generald, erschien im Straßenanzug und hatte sich somit an die Kostümierung der gesamten Gemeinschaft angeglichen. Er trug gewissermaßen die Uniform der Masse. Er wollte bei dieser Gelegenheit (so sah man es in der TV) Kraft ausstrahlen: ruckartig, mit federnden Beinen stieß er jeden Satz hervor, so als hätte er die Absicht, die Wortreihen springend aus sich hinaus• zuschleudem; zudem verwendete er kein vorbereitetes Manuskript. Er wollte die Eigenkraft des lmprovisierens wirken lassen, auch den Ausdruck von Aufrichtigkeit, der in der freien Rede liegt.
Umzüge, wie vor vielen tausend Jahren, eröffneten den Wettkampf. Man hat ihren eigentlichen Sinn längst vergessen, trotzdem vermag man aber an ihnen einigen Gefallen zu finden. Warum wohl? Weil sie jenen verschütteten Phantasiebildern des Archetyps die wir in uns tragen, entsprechen. Der Umzug ist ein symbolischer Akt, der den Kreislauf der Gestirne, der Jahres und Tageszeiten zu simulieren hat. In der analogen Handlung liegt die Hoffnung, der Mensch könnte die kosmischen Kräfte auf diese Art und Weise bewegen, ihre lebenserhaltenden Funktionen weiter auszuüben. Auf dem Fußballplatz von Buenos Aires wurden auch die Fahnen der an den Wettkämpfen beteiligten Nationen mitgeführt: Symbole der nationalen Identität. Als Teil für das Ganze hatten sie zu bewirken, dass der Segen nicht nur die Fahnenträger oder sie Schau-Kämpfer treffe, sondern die ganze Nation.
Von nun an standen (und stehen) die Fußballer im Mittelpunkt des Geschehen. Man will sie sehen, auch wenn sie in der TV nicht zu sehen sind, also schneidet man ihre Bilder aus und klebt sie an die Wand. Man will von ihnen hören, und zwar – das ist es eben! – möglichst Persönliches. Denn mit dem heeren Helden, dem übermenschlichen, vermag man sich nicht zu identifizieren. Man muss seine menschliche Seite finden. Er muss ja eine haben. Oder…? Ein Phänomen wird hier erkennbar, das wir die Klatsch- und Tratsch-Komponente des Mythos nenne wollen.
Die Vertrautheit mit den Intimitäten der mythischen Figuren gibt dem Zuschauer der kultischen Handlung eine Spur von Weihe. Die Sprache ist auch in diesem Fall genau: der Zuschauer wird durch Klatschen zum Eingeweihten. Er glaubt sich über sich selbst zu erheben, in die Welt der Idole Einlass gefunden zu habe, mit dem Heros freundlichen Umgang zu pflegen. Also werden Launen und Leistungen der einzelnen Spieler besprochen, ihre Muskelzerrungen und ihre Speisen, ihre Aussprüche und die Einzelheiten ihres Eheglückes. Das gleich psychische Bedürfnis des passiven Publikums hat seinerzeit dazu geführt, dass das Privatleben der Monarchen zum beliebten Gesprächsthema geworden ist. Manches wurde zur deftig-trivialen Anekdote. Die Zote ist in solchen Fällen ein seltsamer Versuch, sich dem geheiligten Gegenstand wenigstens verbal zu nähern.
Konflikt der Idole
Die gleichen Motive machen die Konflikte zwischen den Idolen so sehr interessant. Wenn zwischen Merkel und Senekowitsch wütender Streit tobt, wenn Sekanina eingreift oder sich zurückhält, wenn die Spieler in irgendeiner Weise Partei ergreifen, dann hat das im Augenblick keine geringere Bedeutung als der Streit der Götter in der homerischen Dichtung. Die Hierarchie der übermenschlichen Mächte beschäftigt die Phantasie, denn auch diese Über- und Unterordnungen geben Gelegenheit zur Identifikation. Es ist tröstlich zu wissen, dass selbst die Idol???? mitunter unter einem ihnen überlegenen Willen zu leiden haben. Achill ist dem Apollo genauso ausgeliefert wie Prohaska dem Senekowitsch. Auch Idole können aufgestellt oder nicht aufgestellt werden, abberufen oder sogar gesperrt. Die mythische Bedeutung der gelben und der roten Karte in der Hand des Schiedsrichter Zeus wäre- eine eigene Betrachtung wert. Und welch eine phantasiebewegende, auf Befreiung drängende Kraft liegt im Bild: Das gesperrte Idol. Die Festkampfspiele geben dem Zuschauer auch noch andere Möglichkeiten, wenigstens im Augenblick über sich selbst hinauszuwachsen. Durch die Rollenverteilung verfällt er in den angenehmen Zustand einer bequemen Schizophrenie. Der eine Teil der Seele stürmt und verteidigt, der andere Teil genießt das Gefühl, nicht wirklich stürmen und verteidigen, sondern bloß zusehen zu müssen. Man nimmt intensiven Anteil an der Wirklichkeit, ohne Verantwortung, ja ohne irgendwelche Folgen. Man kann als Nationalmannschaft verlieren, aber nicht als Einzelperson. Das 1:5 gegen Holland konnte als Schmach empfunden werden, jedoch kein Zuschauer musste deshalb tot umfallen wie vom Blitz getroffen.
Vorteil der Passiven
Das Zuschauen sichert dem Passiven sogar einen gewissen Vorteil dem Aktiven gegenüber: Der Zuschauer darf außer sich geraten, der Zur Schau-Gestellte muss ruhig bleiben, diszipliniert, frei von Stimmungen, möglichst sogar gelassen. Das führt zu einem merkwürdigen Paradoxon. Der Aktive muss nicht nur die Härte des Spiels, sondern auch die Unmöglichkeit erleiden, sich emotionell auszutoben; der Passive aber ist unverletzlich, für die Tritte des Gegners unerreichbar, und zugleich auch noch in der Lage, spontan Leidenschaften auszuleben. Der Eindruck entsteht, sich den Idolen nicht nur durch Entweihung genähert zu haben, sondern ihnen in einer gewissen Hinsicht vorübergehend auch noch überlegen zu sein.
So werden Triebe und Wunschvorstellungen des lebendigen Archetyps durch die gegenwärtige Fußballmeisterschaft befriedigt. Die Summe all dieser Erfahrungen empfindet man als eine Art von Glück.
Und noch etwas. Bereits im Jahre 880 v. Chr. Verkündete Lykurg von Sparta für die Zeit der olympischen Spiele den Gottesfrieden. Es ruhte für diese Zeit jeder Krieg, und für die, die aufgebrochen waren, die heiligmäßigen Wettkämpfe mitanzusehen, ruhten auch die Geschäfte. Zuschauer der Spiele arbeiteten selbstverständlich nicht. An dieser Tatsache hat sich in den letzten dreitausend Jahren nichts geändert.
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