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Digital In Arbeit

Alter Frack, neue Ideen

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Der Zirkus hat ein neues Publikum, aber noch keine neue Identität. Routine und harte Arbeit an neuen artistischen Höchstleistungen schwanken zwischen Tradition und Revue, kennzeichnen die Gegenwart. Mit mehr Phantasie können auch kleine Zirkusse überleben.

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Der Zirkus hat ein neues Publikum, aber noch keine neue Identität. Routine und harte Arbeit an neuen artistischen Höchstleistungen schwanken zwischen Tradition und Revue, kennzeichnen die Gegenwart. Mit mehr Phantasie können auch kleine Zirkusse überleben.

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Ich liebe den Zirkus. Die kleinen Zirkusse genau so sehr wie die großen — oder noch etwas mehr. Mittelgroße Zirkusse nicht zu vergessen.

In den großen Zirkussen sehen wir die absoluten Höchstleistungen. Da werden die Maßstäbe gesetzt. Da gelingt einem nach jahrelanger härtester Arbeit zum ersten Mal die eine Drehung in der Luft mehr, mit der er Geschichte macht, die ihn hoch über die anderen Artisten hinaushebt — die anderen werden nicht ruhen, bis sie's auch können.

Da wird mit dumpfem Trommelwirbel angekündigt: Zum ersten Male sehen Sie...! Es wird gebeten, den Atem anzuhalten.

So ein Großzirkus, Krone, gastiert jetzt gerade auf dem Wiener Messegelände. Da fliegen die Tra-

Von HELLMUT BUTTERWECK pezkünstler nicht einfach nur durch die Luft. Da scheinen sie die Schwerkraft aufheben zu können, wenn sie am höchsten Punkt ihres Fluges hoch oben einen Sekundenbruchteil in der Luft stehenbleiben, eine Drehung vollführen, nur mit einer Hand nach der Stange greifen, die erstaunlicherweise auch noch da ist, wo die Hand sie sucht, und das Erstaunlichste ist die Lässigkeit und Leichtigkeit, mit der all dies geschieht.

Da wechseln die Jongleure, ein Er und eine Sie, einfach Platz, während die glänzenden Keulen durch die Luft zucken, wo der eine Jongleur stand, ist plötzlich der andere, die Keulen zucken weiter, mir nix, dir nix, wer hat das schon gesehen?

Da springen die schwarzen Panther von einem laufenden Pferd aufs andere, dem Dompteur als Verhaltensforscher ist es geglückt, sie davon zu überzeugen, das Pferd sei keine potentielle Beute, sondern bloß ein Postament, wer hat sowas gesehen?

Der winzigkleine Zirkus, der Pimperlzirkus, wird sich solche Attraktionen nie leisten können. Da ist das Pferderl, auf dem der Herr Direktor die halbhohe Schule reitet, schon ein bisserl altersschwach, was der Seiltänzer zeigt, hat vielleicht die Oma vor hundert Jahren veranlaßt, den Atem anzuhalten, und falls das Unternehmen auf einem Gebiet mithalten kann, sind es allenfalls die Spaße der Clowns, denn auf diesem Gebiet fällt auch den Großen selten etwas Neues ein.

Trotzdem tut es mir sehr, sehr leid, daß der Pimperlzirkus hierzulande ausgestorben ist — in Italien gibt es ihn noch, gottlob. Denn der Pimperlzirkus bietet nicht nur jene Intimität, die der Großzirkus verloren hat, ihm haftet auch am schönsten Sommertag jenes bißchen Traurigkeit an, das an einem kühlen Septembertag, wenn der Regen schon ans Zeltdach klopft und nicht nur die Trompete, sondern auch der Ansager schon heiser, das Geld für die Überwinterung aber noch nicht beisammen ist, so eine hungrige Schicksalgemeinschaft zum Symbol für alles menschliche Streben erhöht.

Da wird der Vorhang zwischen Schein und Sein, zwischen Glanz und Flitter und dem, was davon bleibt, zerschlissen wie ein uraltes Zirkuszelt, und wenn dann noch der Direktor als Clown auftritt, wird Spiel zur Wirklichkeit.

Wie gesagt, solche Zirkusse gibt es hierzulande nicht mehr, ich habe sie als Kind noch erlebt. Aber es gibt den mittelgroßen Zirkus.

Er faßt weniger Menschen als der Großzirkus, der einige tausend Besucher aufnimmt wie nix —man unterschätzt leicht das Fassungsvermögen dieser Riesenzelte. Der mittlere Zirkus kann sich darum auch nicht die schönsten Pferde leisten und die teuersten Sensationen einkaufen. Aber er hat trotzdem viel zu bieten: Erstklassige Leistungen und dazu jene Intimität, die dem ganz großen Zirkus fehlt. Die Nähe des Zu-

Schauers zum Geschehen. Da kann man die Tiere noch riechen.

Auch so ein erstklassiger Mittelzirkus ist jetzt gerade in Wien zu sehen: Medrano. Auch Medra-no ist ein sehr alter Zirkus. Auch Medrano hat einige sehr, sehr gute Nummern, und seine Clowns finde ich sogar besser als die der großen Konkurrenz. Sicher werden viele Leute beide Zirkusse sehen. Noch vor wenigen Jahren wäre die gleichzeitige Anwesenheit zweier Zirkusse kaum in Frage gekommen. Aber in den letzten Jahren entstand nicht nur in Osterreich ein neues, junges Zir-kuspublikum. Es stellt hohe Ansprüche, ist aber auch bereit, cir-censische Leistung zu honorieren.

Diesem neuen Publikum ist es zu verdanken, daß die Zirkusse nicht mehr, wie noch vor zehn Jahren, von einem Jahr zum anderen dahinvegetieren. Ein Zirkus ist schließlich wirtschaftlich mit einer kleinen Fabrik vergleichbar, beschäftigt oft Hunderte Menschen und rechnet mit Tageskosten von bis zu 180.000 Schilling während der Saison. Dieses Geld will eingespielt sein.

Die neue Zirkusblüte ist sicher Ausdruck eines tief in den Menschen sitzenden Bedürfnisses nach unmittelbarem Erleben, dem auch das Clownfest im Prater seinen Erfolg verdankt. Im Zirkus sieht man Pferde, Artisten und CloWns und nicht einen Bildschirm, nicht eine Leinwand mit den bewegten Abbildern von Pferden, Artisten und Clowns.

Daß der Zirkus plötzlich wieder „Mode” wurde, hat aber sicher auch mit neuen künstlerischen Impulsen zu tun, die von den Österreichern Andre Heller und Bernhard Paul ausgingen. Der Zirkus Roncalli ist heute in Westdeutschland ausverkauft, wo er auftaucht, und nicht nur dank seiner Tiere und Artisten, sondern vor allem einer neuartigen, durchdachten, phantasievollen, künstlerisch anspruchsvollen Präsentation. Bernhard Paul, Zirkusgründer, Heller-Partner und später Streit-Partner, wäre um ein Haar gescheitert, war gepfändet, da kam der explosive Erfolg.

Er beweist die Richtigkeit eines Konzepts. Der traditionelle Zirkus stagnierte. Niemand suchte nach durchgehenden Elementen, nach anspruchsvollerer Präsentation, nach einer Möglichkeit, die Kunst der Clowns weiter zu entwickeln.

Roncallis „Freddi Spaghetti” -das war etwas Neues. Der Aufwand: Ein alter Frack — und neue Ideen. Zu viele Zirkusse stecken die alten Ideen in neue Fräcke.

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