6689088-1962_29_24.jpg
Digital In Arbeit

Zirkus am Ende?

Werbung
Werbung
Werbung

ES SIEHT GAR NICHT SO GEFÄHRLICH AUS. Ruhig und sicher bewegt sich der Dompteur zwischen Löwen, Tigern, Pumas, Panthern. Teils gelangweilt, teils verdrossen, selten nur kurz zögernd, machen sie, was er von ihnen will. Erklettern Postamente, . springen über einander hinweg, wagen den Satz durch den brennenden Reifen

— und warten ruhig auf ihren Plätzen, bis man sie wieder braucht. Nur die Schwänze pendeln gelegentlich nervös durch die Luft, oder klopfen auf den Boden, scheinen zu warnen: Reiz mich nicht, sonst freß ich dich!

Ist die Warnung ernst zu nehmen? Wie gefährlich ist der Beruf des Raubtierbändigers? Ein Mann, der es wissen muß, Gerd Simoneit, er zählt heute zu den besten Dompteuren, beantwortet die Frage ungefähr so:

Wenn man die nötige Ruhe hat, wenn man die Tiere liebt, weni man vor allem eine Stimme besitzt, die auf Raubtiere beruhigend wirkt, ist die Arbeit im Raubtiergehege ungefährlich

— so lange man sich eisern auf sie konzentriert und keine Regel aus dem Auge läßt. Auch in diesem Beruf heißt die große Gefahr: Gewohnheit. Wer kann jahrelang Tag für Tag eine Arbeit verrichten, ohne gelegentlich ein wenig leichtsinnig zu werden, sich ablenken zu lassen, sich über irgendeine ungeschriebene, aber eiserne Regel hinwegzusetzen?

Man sucht zwei Tiger zu beruhigen, die einander in die Haare geraten wollen und wird vorn dritten angefallen. Simoneit kam zweimal knapp mit dem Leben davon.

Man baut eine Raubtiernummer auf, sie soll bis Saisonbeginn vorführreif sein, der Direktor drängt den Dompteur, der Dompteur bedrängt seine Tiere - und ist tot, bevor er zum erstenmal aufgetreten ist. So geschehen einem deutschen Dompteur in einem italienischen Zirkus.

Man verteilt seine Gunst einmal nicht ganz gerecht, ein Tier fühlt sich zurückgesetzt - vielleicht war sein Biß nur als freundschaftliche Mahnung gedacht. Auch verhältnismäßig leichte Verletzungen können unangenehm werden. Raubtiere haben immer faulige Speisereste im Gebiß — das bedeutet erhöhte Infektionsgefahr.

Aber wozu überhaupt Raubtiernummern? Wozu dieses Spiel mit dem Leben? Ist's nicht genug, daß es Autorennen gibt, bei denen jährlich einige tödlich verunglücken, daß die Leute in den Bergen herumklettern müssen, und Hunderte kommen nicht zurück — es mag sein, daß die Arbeit im Raubtierkäfig, verglichen damit, harmlos ist. Besteht heute noch ein Bedürfnis nach Vorführungen gezähmter Löwen, Tiger und Panther? Wollen die Leute so etwas überhaupt noch sehen?

ANSCHEINEND NICHT. Bekanntlich gab es in den letzten zehn Jahren ein großes Zirkussterben. Anscheinend doch, denn einige konnten sich halten und haben die Krise überwunden, obwohl die Kosten ansteigen. Eines ist offensichtlich: auch der Zirkus blieb vom Zug zum Großunternehmen nicht verschont. Die kleinen sterben, die großen werden immer größer. Wer den Anschluß verpaßt hat, bleibt auf der Strecke.

Der Zirkus Friederike Hagenbeck, der kürzlich in Wien gastiert hat, und wo Gerd Simoneit seine Raubtiere zeigte, reist jährlich mit seinen 80 Wagen durchschnittlich 9000 Kilometer. Achtzigmal im Jahr wird das Zelt, das erste „Parasolzelt“, ohne Hilfsmasten, ohne Sturmstangen, ohne Abspannungen, aufgestellt und wieder abmontiert. Drei Jahre hält es dieser Beanspruchung stand, dann ist ein neues Zelt fällig. Kostenpunkt: Rund 600.00C Schilling-Achtzigmal im Jahr wird der ganze Zirkus mit Mann, Roß und Wagen auf Eisenbahnwaggons verladen und weitertransportiert. Kaum fällt durch den Ortswechsel auch nur eine einzige Abendvorstellung aus, man kann es sich auch gar nicht leisten, ohne zwingenden Grund auf eine Vorstellung zu verzichten, allein der Sonderzug für einen Transport über 400 Kilometer - 30 Waggons sind nötig

— kostet ungefähr 40.000 Schilling.

Stromverbrauch: Über 200.000 Watt für eine Vorstellung. Futterbedarf: 1500 Zentner Hafer, 4000 Zentner Stroh, 2000 Zentner Hafer in den Sommermonaten. Dazu täglich 150 Kilogramm Fleisch für die Raubtiere. Gagen, Löhne und Gehälter: über vier Millionen Schilling im Jahr. Das Zelt faßt 2500 Menschen. Und nicht immer ist es bis auf den letzten Platz besetzt.

UND DER EINZELNE? Die Abendgagen sind hoch, aber dem Zirkusmenschen sitzt das Geld locker in der Tasche, solange er jung ist. Die Welt bereist er kostenlos — aber er will auch „etwas davon haben“. Irgendwann, wenn er älter wird, und beim Zirkus wird man schnell älter, beginnt er zu sparen. Auf ein Grundstück mit Haus oder auf ein Geschäft mit sicherem Ertrag.

Den Ratenteufel kennt auch der Zirkusmensch. Und da es soziale Sicherheit für ihn kaum gibt, kann ein Unfall mit Arbeitsunterbrechung die Katastrophe bedeuten.

In England“ bat ein Photograph einen Artisten, einen Sprung zu wiederholen — über den Mann mit der Kamera hinweg, das sollte ein besonders effektvolles Bild ergeben. Der Artist erklärte sich bereit — und sprang fehl. Er brach sich einen Unterschenkelknochen.

Seit kurzer Zeit zahlte er an den Raten für einen Grundstückskauf. Die Abendvorstellung sollte in wenigen Stunden beginnen. Jeder verantwortungsbewußte Arzt hätte den Mann in ein Spital eingewiesen. Aber er ging gar nicht zum Arzt, sondern er umwickelte den gebrochenen Unterschenkel mit stützenden Rohrstäben und mit Tüchern, goß sich vor der Vorstellung heißes Wasser über den anderen Fuß, um durch den neuen Schmerz vom alten Schmerz abgelenkt zu werden und trat auf. Trat diesen und den nächsten Abend auf, ging nicht zum Arzt, ließ keine Vorstellung -und keine Gage — aus und ließ den Knochen einfach wild verheilen.

Weil sonst die Ratenzahlung unmöglich und das Grundstück für ihn verloren gewesen wäre. Vielleicht auch aus Ehrgeiz. Aus Sturheit. Vielleicht, weil sich Zirkusmenschen verpflichtet fühlen, wirklich zu leben, wie das

Publikum sie sich vorstellt. Oder weil sie tatsächlich so sind.

ZU DEN GEFÄHRLICHSTEN JOBS UNTER DER ZIRKUSKUPPEL zählt der Salto mortale von Pferd zu Pferd. Von einem galoppierenden Pferd auf ein zweites. Diese Nummer ist selten geworden. Es gibt ja genug Kunststücke, die ebensogut bezahlt werden und bei denen die Aussichten, sich den Hals zu brechen, doch wesentlich geringer sind.

Äddi Ende zeigte den Salto mortale ebenfalls in Wien. Davon, ob er nach dem Überschlag in der Luft wirklich auf dem Rücken des zweiten Pferdes landet, hängt mehr ab, als der Erfolg eines Abends: Verfehlt er das Ziel, so dreht sich der Körper des Reiters im Sturz weiter, und er landet nicht auf den Beinen, sondern meistens auf dem Rücken in der Manege.

Darum gilt als häufig bestätigte Regel: Der Salto-mortale-Reiter endet als Clown. Selten hat er, wenn ihn das Unglück trifft, schon so viel Geld, daß er sich zur Ruhe setzen kann. Er muß also weiterarbeiten. Er muß eine Arbeit finden, bei der beschädigte Knochen nicht besonders stören. Der Schminktiegel, die Gumminase, der zerbeulte Hut und die riesigen Schuhe drängen sich ihm geradezu auf.

Innerhalb der Zirkuswelt ist der Clown durchaus kein minderbewertetes Wesen. Er kassiert hohe Abendgagen, wenn er etwas kann. Auch er hat keine Chance, Arbeit zu finden, wenn er nichts kann. Deshalb bauen Salto-mortale-Reiter manchmal frühzeitig schon eine gute Clownnummer auf, um im Ernstfall schnell umsatteln zu können.

RAUBTIERE, PFERDE, AKROBATEN, CLOWNS. Dies sind, ohne daß aus der Reihenfolge der Aufzählung irgendeine wirkliche Rangordnung abzuleiten wäre, die vier tragenden Säulen des klassischen Zirkus. Wenn eine fehlt, ist das Programm nicht komplett.

Vor ungefähr zehn Jahren, als das große Zirkussterben begann, glaubten viele Zirkusdirektoren, die klassischen vier Säulen genügten in unserer Zeit nicht mehr, den Zirkus zu tragen.

Eines Tages bekam ein staunendes Publikum Wasserkünste und Eislaufdarbietungen vorgesetzt. Die Leute gingen in den Zirkus — und sahen Ballettvorführungen, die jedem Variete Ehre gemacht hätten. Der Zirkus glaubte, neue Elemente aufnehmen und verarbeiten zu müssen, um überleben zu können. Und wurde sich dabei nur selber untreu, aber die Rechnung ging nicht auf. Es kamen deshalb nicht mehr Leute, sondern weniger.

Lichtorgeln und Wasserspiele wurden ins Depot geschafft und auf Verlustkonto geschrieben. Der Zirkus wird als Zirkus weiterbestehen, als das, was er eh und je war, oder er muß aufhören, weiterzubestehen.

HAT ER NOCH EINE FUNKTION? Ist der Filmbesucher, der auf der Breitleinwand, wenn ein Zirkusfilm läuft, jeden Handgriff des durch die Luft fliegenden Trapezkünstlers und jede Anspannung seiner Gesichtsmuskeln in Großaufnahme verfolgen kann, nicht enttäuscht, wenn er im wirklichen Zirkus im Scheinwerferlicht eine winzige Gestalt durch die Luft wirbeln sieht, und kein Detail ist zu erkennen? Ist der Unterhaltungsuchende, der, wenn er das Fernsehgerät aufdreht und das Pragramm es will, galoppierende Pferde im Wohnzimmer in aller Bequemlichkeit im Lehnstuhl beobachten kann, bereit, für den Eintritt zu bezahlen und sich auf eine harte Holzbank zu setzen, nur, weil er dort die Pferde nicht nur sieht, sondern weil es auch nach Pferden riecht? Und weil die Bänke zittern, wenn ihre Hufe auf den Boden schlagen? Während der Boden unter dem Fernsehapparat während der Sendung oft eher dann erzittert, wenn der Nachbar hart auftritt?

Ist Atmosphäre so wichtig? Hat Atmosphäre noch einen Marktwert? Hat angesichts der perfekten technischen Wiedergabe das Original noch eine Chance? Kann die Wirklichkeit mit ihrem Abbild konkurrieren?

• In Italien konnten sich sechzig Zirkusse am Leben erhalten, in Deutschland nur zwölf, in Österreich keiner. .

Doch die Überlebenden sind optimistisch. Man muß dem Publikum natürlich immer mehr und immer Besseres bieten, erklären sie. Man muß immer geschicktere Akrobaten holen und noch-elegantere Raubtiernummern aufbauen und noch schönere Pferde zeigen.

Der Konsument ist verwöhnt. Er will etwas sehen für sein Geld. Aber er ist bereit, es nicht nur für perfekte Wiedergabe auszugeben, sondern auch für die, ach, so dürftige Wirklichkeit. Das Echte ist noch nicht verloren.

Es hängt nicht nur die Existenz der Zirkusdirektoren davon ab, ob ihre Rechnung stimmt.

Raubtiere? Pferde? Akrobaten? Clowns? Und nicht auf der Filmleinwand? Nicht auf Farbphotos, groß, greifbar, in Illustrierten? Sondern ungreifbar weit vorne in der Manege? Und das in unserer Zeit? Kinder, ist der Zirkus unmodern!

GERADE DARIN LIEGT SEINE CHANCE. Er bringt einen Hauch von Poesie in unser immer eintöniger werdendes Leben, er rettet noch einen Rest vom Reiz der Ferne ins Zeitalter der Düsentouristen herüber. Und was den oft, sei's vorwurfsvoll, sei's zwecks Reklame, zitierten Slogan vom „Spiel mit dem Tode“ betrifft - der Artist lebt nicht so gefährlich wie der Eiger-Nordwand-KIetterer oder wie der Rennfahrer. Doch er ist ein Künstler. Was er tut, hat tieferen Sinn.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung