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Herrenlose Zeiten

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„Ach Italien, traumverklärtes Stückchen Sehnsucht, gerne hätte ich deinen Stiefelschaft geküßt, doch eifersüchtig sind die Herren hier der Ansicht, daß ich erstmal ihre Stiefel küssen müßt“, klagt der Ostberliner Liedermacher Stefan Krawczyk in diesen Tagen ganz freimütig über die Unmöglichkeit, nach Westeuropa reisen zu dürfen.

Und niemand belästigt den Barden mit der Ziehharmonika bei seinen Auftritten in den einschlägigen Gemeindehäusern der Evangelischen Kirchengemeinden. „Es herrschen eben herrenlose Zeiten, wenn der Herr Staatsratsvorsitzende Erich Honecker im Westen weilt“, scherzt ein Redakteur vom „Grenzfall“, dem ersten politischen Untergrundmagazin der Deutschen Demokratischen Republik.

Als habe man etwas verpaßt, seien Ängste und Sehnsüchte zu lange zurückgehalten worden, regt sich in den letzten Monaten in der DDR plötzlich ein Bürgerprotest, den vor Jahren noch niemand für möglich gehalten hätte.

Denn im Unterschied zu Jänos Kädär oder Gustav Husak hatte Honecker stets eine Waffe in der Hand, die ihm als Allheilmittel dient, um schon die kleinste oppositionelle Regung im Keim zu ersticken: Jeder, der es wagte, gegen die Vorherrschaft der Sozialistischen Einheitspartei (SED) die kleinste Kritik anzubringen, wurde in den anderen deutschen Staat abgeschoben.

Doch irgendwie scheint dem mittlerweile 75jährigen Generalsekretär im letzten Herbst eine Unachtsamkeit unterlaufen zu sein. Unbemerkt von der Staatssicherheit strahlte am 31. Oktober letzten Jahres ein illegaler Radiosender ein SED-feindliches Programm aus, in dem Tips zum zivilen Ungehorsam abgegeben wurden. Der „schwarze Kanal“ meldete sich immer wieder, um als freie Radiostimme die Bevölkerung wachzurütteln.

Nahezu gleichzeitig übten sich einige Mitglieder unabhängiger Friedenskreise im Schwarzdruk-ken. Im Schoß der Kirche wollten sie eigentlich in „fliegenden Blättern“ über Glaubensfragen hinaus ihre Probleme als engagierte Christen in einer atheistisch geprägten Gesellschaft diskutieren.

Doch dafür gab die Amtskirche aus Rücksicht auf die schon bestehenden Spannungen zwischen ihr und der Staatsführung kein grünes Licht. So entschlossen sich die Mitglieder der kirchlichen Basisgruppe „Frieden und Menschenrechte“, außerhalb kirchlicher Strukturen eine eigene Zeitschrift herauszugeben.

Was anfangs ganz geheim und konspirativ lief, darf jetzt öffentlich vor sich gehen. Die Herausgeber von „Grenzfall“ bekennen sich seit ein paar Wochen namentlich zu ihrem Werk. Und sie wissen, mindestens zur Zeit läßt man sie gewähren. Honecker will durch Verhaftungen nicht sein Image, das er sich im Westen derzeit verschafft, leichtfertig aufs Spiel setzen.

„Grenzfall“ ist heute Teü der ostdeutschen Realität, Symbol für oppositionelle Aktivität. Doch Wolfgang Templin, bis zu seinem Berufsverbot 1984 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Philosophie der DDR-Akademie, erinnert sich noch genau an die Anfänge vor einem Jahr, als ihn viele Freunde für verrückt erklärten, als politischen Selbstmörder darstellten, als er in Petitionen an den Obergenossen

Honecker freie Reisemöglichkeiten forderte und für mehr Reformfreudigkeit ä la Michail Gorbatschow plädierte.

Templin hat mittlerweile Nachfolger gefunden. In richtig pluralistischer Manier erscheinen mehr und mehr Samizdatschrif-ten in der DDR. Neben dem ^Grenzfall“ die „Umweltblätter“ und der „Friedrichsfelder Feuermelder“.

Sie greifen Themen auf, die in der Parteipresse tabu sind, von Menschenrechtsfragen bis hin zu Umweltproblemen ist alles zu finden. Dabei wird immer auch auf Gorbatschow geschielt und nicht übersehen, daß dieser dem Genossen Honecker kürzlich nicht persönlich zum 75. Geburtstag gratulierte; ein kleiner Wink für den dogmatischen Kurs der SED?

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