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Frustrierte Kritiker

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In der letzten Novemberwoche schlug die DDR-Staatsgewalt massiv zu: 20 Oppositionelle wurden festgenommen. Beginnt eine neue Phase der Einschüchterung?

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In der letzten Novemberwoche schlug die DDR-Staatsgewalt massiv zu: 20 Oppositionelle wurden festgenommen. Beginnt eine neue Phase der Einschüchterung?

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Aus allen Teilen der Deutschen Demokratischen Republik kamen jene Oppositionellen, die im Gefolge einer großangelegten Razzia des Staatssicherheitsdienstes in der „Umweltbibliothek“ der Ostberliner Zionskirchgemeinde jüngst festgenommen wurden. Das Untergrundmagazin „Grenzfall“ (FURCHE 37/1987), das Informationsorgan der „Friedensund Menschenrechts-Aktivi-sten“, samt Wachsmatrizenum-drucker ließen die Ordnungshüter gleich mitgehen.

Vier Anklageerhebungen wegen „Zusammenschlusses zur Verfolgung gesetzeswidriger Ziele“- worauf immerhin bis zu fünf Jahre Gefängnis stehen - sprach der Oberstaatsanwalt aus. Und im Westen hagelte es Proteste gegen die „stalinistischen Methoden“.

Dabei war Erich Honecker nur jener osteuropäischen Logik gefolgt, die die Genossen Jänos Kädär und Michail Gorbatschow vorgaben. Als 1985 zum ersten Mal eine KSZE-Konferenz in Osteuropa (Budapest) stattfand, ließ Kädär die Opposition im Lande monatelang in Ruhe streiten, drucken und Happenings durchführen; Ak aber das Spektakel wieder vorbei war, kehrte die alltägliche Repressions- und Einschüchterungspraxis wieder zurück: Und erst am Dienstag der Vorwoche wurden Vertreter der Moskauer „Trustgroup“ auf dem Roten Platz verhaftet, als sie Passanten über die Notwendigkeit aufmerksam machen wollten, Kriegsspielzeug zu vernichten.

Weshalb sollte da die DDR nicht auch gegen ihre kritischen Geister vorgehen? Der erfolgreiche Bonn-Besuch des Staatsratsvorsitzenden liegt schon relativ weit zurück, und die „Grenzfall“-Mannschaft — mit dem ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter am Zentralinstitut für Philosophie der DDR-Akademie, Wolf gang Templin, und dem Liedermacher Stefan Krawczyk an der Spitze - hatte in der nun in Druck gegebenen Nummer mit ihren Nadelstichen die Schmerzgrenze der Einheitssozialisten überstrapaziert.

Denn das, wovon die Medien hierzulande kaum sprechen - die FURCHE wird noch ausführlich darauf eingehen — und doch ein neues Problem im ostdeutschen Alltag darstellt, griffen nun die Samisdat-Hersteller auf: die Existenz von Neonazigruppen in der DDR.

Ein heikler Punkt für einen Staat, der solche faschistischen Auswüchse immer nur anderen anlastet, sich selbst davon aber nicht betroffen wähnt. Ein Punkt, an dem freie, unkontrollierte Diskussionen auf jeden Fall unterbunden werden müssen, so die Meinung in den SED-Schaltstel-len. „Und daß man solche Debatten nicht wünscht, davon bin ich felsenfest überzeugt“, berichtete eine der festgenommenen und verhörten Frauen aus dem Umfeld der Zionskirchgemeinde.

Und sie ergänzte verbittert: „Das wurde mit den Festnahmen auch erreicht. Wir sind nun so sehr mit uns beschäftigt. Frustration macht sich breit. Da kann auch nicht die großartige Solidarität hinwegtäuschen, die wir mit den Mahnwachen erfuhren.“

Wolf gang Hüddenklau, der am längsten Festgehaltene, der mir gegenüber noch vor einem Monat euphorisch berichtete: „Wir werden von Tag zu Tag mehr und finden immer mehr Nachahmer, eines Tages werden unsere hekto-graphierten Blätter vielleicht gar in einem staatlichen Verlag erscheinen, weil man das freie Wort nicht weiter unterbinden kann“, gibt nun ungeschminkt zu, daß die Zahl der Ausreiseantragsteller, die dem Arbeiter- und Bauernstaat den Rücken kehren wollen, wieder steigen werde.

Einer der geistigen Väter der „Friedens- und Menschenrechts-Gruppe“, der vorhin bereits erwähnte Wolf gang Templin, erhielt dieser Tage Besuch von seiner Tante, die ihn sonst nie besucht. Von ihr bekam das ehemalige SED-Mitglied den Rat, „nach drüben“ zu gehen, ehe es zu spät sei.

Doch wie schrieb Templin, der frühere Parteiphilosoph, der sich zur Zeit als Holzfäller seinen Lebensunterhalt verdient, einmal? „In Polen, Ungarn und in der Tschechoslowakei gibt es lange Erfahrungen darin, sich der schlechten Alternative von Anpassung, Konspiration oder Auswanderung nicht zu unterwerfen. Diese Entwicklung für die DDR rundum auszuschließen, zeugt nur von der Unfähigkeit, den akademischen Sockel zu verlassen; ich bleibe.“

Doch wie viele denken wie er? Bleibt der „Grenzfall“ ein Grenzfall, oder wird er zum Normalfall einer sich öffnenden Gesellschaft?

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