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Keiner zum Tod verurteilt

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In den Vereinigten Staaten herrschten im vorigen Jahrhundert skandalöse soziale Zustände. Für Arbeiter gab es weder einen freien Samstag noch Sonntag, nicht einmal einen freien Weihnachtstag, Kinder arbeiteten in den Spinnereien täglich bis zu vierzehn Stunden, die Löhne waren jämmerlich gering. Der Anwalt Clarence Darrow (1857 bis 1938) verteidigte die Ausgebeuteten ohne Bezahlung, setzte sich für eine Humanisierung des Strafrechts, für den Achtstundentag ein, kämpfte für die Abschaffung der Todesstrafe. Er gilt heute mit Recht als eine verehrungswürdige Gestalt der jüngeren amerikanischen Geschichte.

Nun hat der Amerikaner David W. Rintels nach „Clarence Darrow for the Defence“ von Irving Stone ein Bühnenwerk für einen Darsteller verfaßt, das bei den Salzburger Festspielen im Landestheater unter dem Titel „Im Zweifel für den Angeklag-

ten“ mit Curd Jürgens wiedergegeben wird, obwohl die deutschsprachige Erstaufführung bereits in Berlin stattgefunden hat. Es soll dies ein Beitrag Salzburgs zur 200-Jahr-Feier Amerikas sein. Deshalb stieß man sich nicht daran, ein neues, aber in deutscher Sprache bereits gespieltes Bühnenwerk aufzuführen.

Das ist nun kein Stück, sondern ein Lebensbericht, den uns der Dreiund-siebzigjährige rückerinnernd erstattet. Er schildert einzelne „Fälle“, die seinen emstigen Kampf gegen gangsterhafte Großunternehmer, seinen Kampf gegen die Todesstrafe dartun. Von mehr als hundert des Mordes angeklagten Menschen, die er verteidigte, wurde keiner zum Tod verurteilt. Er war der Meinung, wenn das Elend beseitigt wäre, würde man keine Gefängnisse, keine Gerichte mehr brauchen. Die Wohlstandsgesellschaft von heute bestätigt das allerdings nicht. Die Zahl

der Verbrechen ist nur noch gestiegen. Er erklärte, alles Leben sei wert, gerettet zu werden, auch das des Mörders. Barmherzigkeit sei die höchste Tugend. Das kam aber nicht aus religiöser Gesinnung. Er wünschte nur, daß sein Name — er bedient sich der Worte des persischen Dichters Omar Khayam — im „Buch der Liebe“ stehe.

Das Entscheidende, Darrows vortreffliche soziale Einstellung, seine prägnanten juridischen Ansichten sind in direkter Aussage wiedergegeben. Das, vereint mit dem Berichtmäßigen, wirkt theaterfremd. So ist es für den Darsteller Curd Jürgens, für den Regisseur und Bühnenbildner Willi Schmidt schwierig, unsere Anteilnahme wach zu erhalten. Es gelingt durch die Persönlichkeitskraft von Jürgens, mag auch der kämpferische Elan Darrows nicht voll wirksam werden. Es gelingt dadurch, daß die simultan angeordneten Spielorte — Teile der privaten Behausung Darrows, des Büros und eines Gerichtsaals — immer wieder wechseln. Die Plädoyers werden in Rückblende gehalten, die Personen, die Darrows anspricht, erstehen kurz sozusagen leibhaftig in unserer Phantasie.

Im Gefolge der Ungeheuerlichkeiten, die sich täglich ereignen, ergibt sich die Gefahr, daß wir völlig untadelige Gestalten heute auf der Bühne nicht recht glaubhaft finden. Darrow wird durch die geschichtlichte Faktizität bestätigt.

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