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Autonomes „Gelbrußland“?

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Rußland hat immer großes Interesse für die Mandschurei gehabt. Nicht nur allein der Machtpolitik wegen. Es gibt auf den beiden Seiten der Grenze die gleichen Bewohner: in der Mandschurei heißen sie Mandschus oder Tungusen; in Sibirien Evenkis. Alber Rußland hat stets eine unentschlossene und falsche Politik gegenüber der Mandschurei betrieben. Einerseits sieht es gern ein „Gelbrußland“ zwischen Amur und Yalo; anderseits sehnt es sich dauernd nach einer echten Freundschaft mit China, das die Mandschurei fest am Zügel halten will. Deshalb befindet sich die Politik Moskaus im Widerspruch und hat auch oft die Chance verpaßt, einer unabhängigen Mandschurei auch nur zu helfen, geschweige denn eine aktive Handlung zu setzen. In Wirklichkeit ist die Mandschurei historisch, rassisch und politisch nie chinesisch und fast ununterbrochen ein unabhängiger Staat gewesen. So gründeten die Mandschus beziehungsweise Tungusen in der Geschichte bereits mehrmals einen eigenen Großstaat: Pohai-Reich (700 bis 913), Kitan-Reich (916 bis 1125), Kin-Reich

(1115 bis 1234), Tsching-Dynastie (1644 bis 1912). Als die Monarchie ganz China beherrschte, blieb die Mandschurei eine Zeitlang geschlossenes Gebiet und selbständige Verwaltungseinheit. Das letzte Staatsgebilde war das Kaiserreich Man- dschukuo, das 1933 gegründet wurde und am 18. August 1945 durch die Abdankung des Kaisers Henry Puyi Aisingyoro zugrunde ging. Die sowjetische Rote Armee hat den Chinesen geholfen, dieses unabhängige, wenn auch stark an Japan gebundene Staatsgebilde zu vernichten, obwohl Moskau noch 1933 dieses Kaiserreich diplomatisch anerkannt hatte. Durch die Eroberung der Mandschurei mit ihren unglaublichen Reichtümem hat sich Mao Tse-tung groß gemacht. Er kehrte schließlich Moskau den Rücken. Die Russen ziehen daraus wieder einmal eine harte Lehre: Ohne ein unabhängiges

Mandschureich gibt es keine Garantie für die Sicherheit Ostasiens und somit auch der Sowjetunion.

Der Haß der Chinesen

Selbst manche Chinesen haben sich für eine selbständige Mandschurei eingesetzt, zum Beispiel der Kriegsherr Tschang Tso-lin und sein Sohn (1912 bis 1931); und Kao Kang, einer der Führer der KPCh und Gegenspieler Maos (1945 bis 1952). Aber im allgemeinen betrieben die chinesischen Regierungen — gleichgültig welches Regime — immer eine schamlose Politik. So verkündete Sun Yat-sen sein chauvinistisches Schlagwort: „Verjagt die Tataren (Mandschus), gewinnt China zurück!“ Sein Gefolge beschimpft bis heute noch das „korrupte Mandschu- regime“. Tatsache ist aber, daß dieses Regime im Vergleich zu den verschiedenen Regierungen Chinas nach 1911 bis 1912 nicht schlechter war. Wenigstens gab es unter der Man- dschuherrschaft einen dauernden Frieden, was in der Republik China mit ihrer mehr als 50jährigen Bürgerkriegsgeschichte nicht der Fall war. Einerseits betrachteten die Chinesen die Mandschus als Ausländer, anderseits wollen sie wiederum, daß die Mandschurei ein Teil Chinas bleibt.

Die Chinesen haben nicht verstanden, daß die Beziehungen zwischen China und der Mandschurei nur durch die Personalunion ab 1644 ent-Stande sind und mit dem Sturz der Dynastie 1912 auch beendet wurden. Die Chinesen betrieben eine diskriminierende Politik gegenüber den Mandschus. Es gibt in China kein einziges Institut, wo die Mandschu- sprache gelehrt, geschweige denn erforscht wird. Dagegen gibt es Institute an Leningrad, Tokio und Berlin. Die Mandschus können heute nur noch in der Sowjetunion die Gebietsautonomie genießen. Die Kuomintang-Regierung verneint überhaupt die Existenz einer Mandschu- nationalität. Vor 1949 gab es nur insgesamt 80.000 Mandschus in China, weil sie größtenteils unter dem Druck der Chinesen ihre eigene wahre Nationalität verschweigen mußten. Erst nach 1949 stellte es sich heraus, daß in China 2,400.000 Mandschus leben. Die Westeuropäer und

Amerikaner machen sich stets falsche Vorstellungen über die Man- dschus und nehmen an, sie seien vollständig sindsdert worden, was den Tatsachen gar nicht entspricht. Die Mandschus sind heute nicht unbedingt durch ein gemeinsames Gebiet und eine eigene Sprache zusammengehalten, sondern durch ein Gefühl, sich anders, ja besser als die Chinesen zu fühlen. Bereits 1115,1601 und 1615 entstand schon ein Zusammengehörigkeitsgefühl, als das Bannersystem ins Leben gerufen, reformiert und vergrößert wurde.

Hoffnungen

Erst nach Gründung der Volksrepublik China wurde dieses Bannersystem abgeschafft. Doch uhter den Mandschus und Mongolen spielt es weiterhin eine Rolle; es verbindet nämlich die Einzelnen mit ihren Rassegenossen. Auch die gleichartigen Brüder diesseits und jenseits der Grenze fühlen sich verbunden. 1958 beging die letzte Kronprinzessin der Mandschus in Japan Selbstmord. 1968 starb Henry Puyi Aisingyoro, der letzte Mandschukaiser, unter chinesischem Gehorsam in Peking. Das mandschurische Volk ist für eine Mandschurei, die unabhängig, sozialistisch, friedenliebend, mehrrassisch (Mandschus, Mongolen, Russen, Koreaner, Japaner, Chinesen) und eng mit der UdSSR verbunden ist; denn China kann niemals den Wohlstand der mandschurischen Nation sichern. Da Moskau und Peking Feinde wurden, ist die Unabhängigkeit der Mandschurei durchaus im Bereich der Möglichkeit. Wird die Mandschurei doch ei „Gelbrußland“?

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