Karadžic-Opfer klagt an

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Sabaheta Fejžic hat beim Genozid in Srebrenica ihren Sohn und ihren Ehemann verloren. Jetzt fordert sie, dass der Verantwortliche dafür lebenslang hinter Gitter kommt.

Zuerst konnte ich es gar nicht glauben. Ich war überzeugt, dass Radovan Karadžic niemals verhaftet wird. Er hat meinen Sohn und meinen Mann getötet, er hat mich aus meiner Stadt verjagt und mir all das genommen, was mich in meinem Leben glücklich machte." Sabaheta Fejžic, eine kleingewachsene, schlanke Frau, spürt so etwas wie Genugtuung: "Diese Festnahme bedeutet wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit für mich und alle Opfer des Genozids."

Karadžic gilt als Drahtzieher des Massakers von Srebrenica im Juli 1995, dem schlimmsten Massenmord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg (siehe Info-Box). Sabaheta Fejžic braune Haare hat die 52-Jährige mit einer Spange streng am Hinterkopf zusammengebunden. Ihre Augen sind müde, der Blick schweift ins Leere. Ihre Lebensfreude und ihr Lachen, ihre Unbeschwertheit und ihr Humor, ihr Glaube an die Zukunft und das Gute - der ganze Reichtum der Seele und des Gemüts wurde 1995 auf einen Schlag vernichtet. Geblieben ist Sabaheta nichts außer Verzweiflung und quälender Fragen - und die furchtbare Erinnerung an Srebrenica. Sie will davon erzählen, sie muss:

Schrei aus tausend Kehlen

Am 11. Juli 1995 begann für Tausende von Menschen aus Srebrenica der Gang durch die Hölle, auch für Sabaheta: "Ein Teil, vor allem Männer und Jungen, versuchte, zu Fuß durch die Wälder zu entkommen. Mein Mann Saban war einer von ihnen. Die Frauen, Kinder und älteren Menschen retteten sich nach Potocari, zur UN-Basis. Auch ich dachte, dies sei am sichersten. Am Nachmittag kam ich mit meinem Sohn Rijad dort an. Er war 17 Jahre alt. Etwa 20.000 bis 25.000 Menschen drängten sich auf dem Gelände. Hier sah ich, wie die Cetniks Kinder und Alte ermordeten, wie sie Frauen vergewaltigten."

Am schlimmsten war die Nacht vom 12. auf den 13. Juli. Sabaheta kann sie nie mehr vergessen: "Wir waren Tausende, im Freien und in der zerstörten Fabrik bei der UN-Basis. Aber es war totenstill. Mitten in der Nacht kamen sie, und ich sah, wie sie einem Säugling vor den Augen seiner Mutter den Kopf abschnitten. Die Mutter schrie laut. Und wir alle standen wie auf Kommando gemeinsam auf und schrien so durchdringend, dass man uns bis in die Mitte Serbiens hören konnte. So ging es die ganze Nacht: Zuerst ein einzelner Aufschrei, dann der Schrei Tausender, immer wieder und wieder …"

Am 13. Juli setzte sich fort, was schon am Vortag begonnen hatte. Karadžic' Armeechef Ratko Mladi´c und seine Leute hatten alles minutiös vorbereitet: Mit Bussen wurden die in Potocari lagernden Menschen deportiert, bis kurz vor die Frontlinie gebracht, von wo sie sich zu Fuß in Sicherheit bringen mussten. Auch Sabaheta und Rijad machten sich auf zu den Bussen, vorbei an schwerbewaffneten bosnisch-serbischen Soldaten. "Ich hielt meinen Sohn an der Hand. Ein Cetnik zeigte mit dem Finger auf meinen Rijad und sagte:, Nach rechts!'. Doch wir gingen weiter. Sie schrien uns an:, Sagten wir nicht, du sollst nach rechts?' Dann rissen sie mir meinen Sohn aus den Armen."

"Mama, bitte geh!"

Sabaheta atmet tief durch, das Sprechen fällt ihr schwer, doch sie zwingt sich, weiter zu reden: "Als ich sah, dass ich nichts mehr tun konnte, fiel ich auf die Knie und flehte sie an, sie sollten lieber mich umbringen, das Kind sei doch unschuldig. Die Soldaten fluchten, traten und schlugen mich, einer richtete das Gewehr auf mich und lud es durch. Ich hatte schon mit meinem Leben abgeschlossen. Rijad weinte und sagte:, Mama, ich bitte dich, geh!' Dann packte mich ein Soldat und warf mich auf einen Lastwagen, der losfuhr. Ein paar Mal versuchte ich, vom Lastwagen zu springen, um mein Kind wiederzubekommen. Doch die anderen Frauen hielten mich zurück. Mehrmals fiel ich in Ohnmacht. Ich wäre lieber tot gewesen, als mein Kind zurücklassen zu müssen."

Wenn sie aus ihrer Erinnerung erzählt, ringt Sabaheta um ihre Fassung. "Ich hatte eine wunderbare Ehe mit Saban. Er war Vorarbeiter im Bergwerk, in dem ich als Buchhalterin arbeitete. Wir waren glücklich. Bis sie mir meinen Sohn nahmen. Dann wartete ich auf meinen Mann, der durch die Wälder fliehen wollte. Ich wartete, doch er kam nie. Schließlich erfuhr ich, dass er auf der Flucht mit einer Gruppe Männer versucht hatte, eine Straße zu überqueren. Dort war eine Stellung der Cetniks. Sie schossen alle nieder." Nur ein Stück der Lederjacke und der Trainingsanzugshose von Sabahetas Mann tauchten auf.

Es gibt keine Zweifel mehr, Saban und Rijad sind tot. Sabaheta wird für immer alleine bleiben, alleine mit unzähligen Fragen. Doch sie will mehr erfahren. "Diese Ungewissheit ist das Schlimmste. Ich frage mich die ganze Zeit: Wo und wie wurden sie umgebracht? Wurden sie gefoltert? Jedes Mal, wenn ein neues Massengrab entdeckt wird, gehe ich hin, suche alles ab - Kleidungsstücke, Knochen. Aber es war nichts bis jetzt. Ich habe auch Blut gegeben, damit mein Sohn mit der DNA-Analyse identifiziert werden könnte." Oft wurden die Massengräber von den Tätern geöffnet, um die Leichen an einem anderen Ort in sogenannten sekundären Gräbern erneut zu verscharren. Viele wurden verbrannt oder in den Fluss Drina geworfen. Sabaheta: "Ich habe Angst, dass ich sterbe, ohne dass etwas von Saban und Rijad gefunden wurde. Aber was kann ich tun? Nur warten, mehr nicht …"

Seit 1996 lebt Sabaheta in Sarajewo, zusammen mit ihrer alten Mutter. Ihre Witwen- und Invalidenrenten reichen gerade, um sich über Wasser zu halten. Nach dem Massaker gründeten ein paar mutige Frauen die Opfervereinigung "Bewegung der Mütter der Enklaven Srebrenica und Zepa". Sabaheta ist eine von ihnen. "Wir taten uns zusammen, weil wir wissen wollen, was mit unseren Liebsten geschehen ist. Als Überlebende bin ich es den Toten schuldig, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Wir kämpfen dafür, dass alle Opfer gefunden und mit Würde bestattet werden. Und dass die Verbrecher, die den Völkermord begangen haben, zur Rechenschaft gezogen werden."

"Eigentlich bin ich tot!"

Jeden Tag arbeitet Sabaheta im Büro der "Mütter von Srebrenica" in einem tristen Hochhaus in Sarajewo - ehrenamtlich. Das Büro ist der einzige Ort, an dem sich Sabaheta mit Besuchern treffen will. Es ist für sie noch am ehesten so etwas wie ein Zuhause. "Ja, hier habe ich Freundinnen. Aber dennoch fühle ich mich allein und einsam. Denn wir sprechen nur über unsere Probleme. Alles, was ich liebte, gibt es nicht mehr. Diejenigen, mit denen ich alles teilte, sind nicht mehr. Unser glückliches Leben ist 1995 erloschen - eigentlich bin ich 1995 gestorben. Lachen, das kennt meine Seele seitdem nicht mehr, auch wenn ich es manchmal versuche. Nachts, in meinen Träumen, verfolgen mich die schrecklichsten Bilder. Ich sehe, wie sie meinen Mann und meinen Sohn foltern. Deswegen brauche ich auch so viele Medikamente."

Rückkehr nach Srebrenica

Will Sabaheta wieder in Srebrenica wohnen? "Eigentlich wollte ich nie mehr zurück. Denn dort sehe ich jeden Tag Leute, die an den Verbrechen von 1995 beteiligt waren - Nachbarn, auch solche aus meinem Haus. Aber schon seit einer Weile denke ich immer öfter darüber nach. Vor einer Rückkehr müsste ich allerdings die Wohnung renovieren." Doch dieses Geld - etwa 1500 bis 2000 Euro - hat Sabaheta nicht. "Von Hilfsorganisationen bekomme ich stets dieselbe Antwort:, Sie sind allein, Sie haben keinen Anspruch auf Unterstützung!'"

Warum will sie trotzdem zurück? "Es ist der Ort, an dem ich die glücklichsten Jahre meines Lebens verbrachte, mit Saban und Rijad. Nur die Gedanken an die gemeinsame Zeit von damals geben mir die Kraft weiterzumachen." Ihre Liebsten wird Sabaheta nie mehr in die Arme schließen können. Das weiß sie. Doch sie will wenigstens Gerechtigkeit. Sabaheta hat klare Erwartungen an das Haager UN-Tribunal, das nun über Radovan Karadžic richten wird: "Der Prozess muss rasch beginnen. Und Karadžic muss zu lebenslanger Haft verurteilt werden. Ich weiß, welche Verbrechen er verübt hat."

Der Autor arbeitet für das n-Ost-Korrespondentennetzwerk.

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