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Im Zuge des Bosnienkrieges begann im April 1992 die 1425-tägige Belagerung Sarajevos durch bosnisch-serbische Truppen. Die Geschichte einer Flucht - stellvertretend für Tausende.

Wir hatten Glück, meine Familie und ich. Wir verließen Sarajevo mit einem der letzten Flugzeuge. Keine Passagiermaschine, die gab es längst nicht mehr, ein Waffentransport. Granaten von Belgrad nach Sarajevo, Flüchtlinge von Sarajevo nach Belgrad. Ich war damals acht Jahre alt, meine Schwester Nerma sechs. April 1992. Kurz nach Beginn der Belagerung.

Meine Mutter wollte Sarajevo nie verlassen. Darum ist auch mein Vater zurückgekehrt. Damals als sie geheiratet haben. Er hat in den 70er-Jahren in Deutschland gearbeitet. Zwanzig Jahre später kam der Krieg.

Krieg, der: Substantiv, maskulin

mit Waffengewalt ausgetragener Konflikt zwischen Staaten, Völkern; größere militärische Auseinandersetzung, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt

Wir waren Kinder! Natürlich wussten wir, dass dies kein Spiel war. Die Angst und Sorge der Erwachsenen war nicht zu übersehen. Verstehen konnten wir nicht. Zunächst. Wahrscheinlich war es auch besser so.

Erspart blieb es mir dennoch nicht, das Verstehen. Es war wenige Tage vor unserer Flucht. Schulunterricht gab es zu dieser Zeit nicht mehr. Der Krieg verändert vieles. Ich wollte hinaus, um mit den anderen Kindern zu spielen. Doch ich durfte nicht. Zu gefährlich, sagten sie. Verstehen konnte ich nicht. Was wusste ich von Granaten, was von Krieg oder Frieden.

Es wurde Mittag an diesem Tag. Mutter hatte Erbsen gekocht. Wir hatten Hunger.

Ich werde niemals Vaters Blick vergessen als er sagte: "Gib es nicht uns. Lass es den Kindern.“ Mutter nickte und ich - weinte. Die ersten Tränen der Bitterkeit in meinem kurzen Leben. Manchmal sind es die kleinen Dinge, die uns die Tragweite eines Unglücks bewusst machen. Ich war acht Jahre alt.

Träne, die: Substantiv, feminin

bei starker Gemütsbewegung oder durch äußeren Reiz im Auge entstehende und als Tropfen heraustretende klare Flüssigkeit

Sprecht euch nicht mit Namen an! Es geht um Leben und Tod, sagten sie. Merkt euch das gut! An euren Namen können sie unsere Herkunft erkennen!

Wie hätten wir verstehen sollen, warum wir nicht sein durften, wer wir waren?

Wie hätten wir verstehen sollen, dass die Menschen dieser Stadt von nun an mit zweierlei Maß gemessen wurden. Belagerer und Belagerte. Serben und Bosniaken. Christen und Muslime. Es herrschte Krieg und aus Nachbarn wurden Feinde. Leid und Vernichtung für die einen wie die anderen.

Vier Jahre lang stand die serbische Front in den Bergen um Sarajevo. Vier Jahre lang waren die Menschen hier eingeschlossen. Hunger, Durst, Kälte und Tod und nicht zu vergessen: Angst.

Es ist eine Untertreibung zu sagen, es war riskant, dass wir als bosniakische Muslime versuchten in einem serbischen Flugzeug aus der belagerten Stadt zu fliehen. In unserem Land ist nicht nur die Volkszugehörigkeit gleichbedeutend mit der Religion, auch unsere Namen weisen uns der einen oder anderen Gruppe zu. Man kann sich unschwer ausmalen, welche Folgen eine Entdeckung unserer Herkunft während dieses ohnedies schon abenteuerlichen Fluchtversuches nach sich gezogen hätte.

Vater sagte, sie würden uns erschießen. Niemand durfte unsere wahre Identität entdecken. Wir nahmen keine Dokumente mit. Genau gesagt nahmen wir nichts mit. Gar nichts.

Flucht, die: Substantiv, feminin

das unerlaubte und heimliche Verlassen eines Landes oder Ortes

das Ausweichen aus einer als unangenehm empfundenen oder nicht zu bewältigenden (Lebens-)Situation

Am besten schweigt ihr still, sagten sie. Wenn euch jemand fragt, so sagt ihr, ihr seid aus den Bergen geflohen. Sagt, eure Familie hat alles verloren. Sagt niemals eure Namen! Niemals!

Ich habe die Waffen gesehen, mit denen Sarajevo beschossen wurde. Wenigstens einen Teil davon. Damals. Auf dem Flugplatz. Erst Jahre später habe ich auch die Zerstörung gesehen. Unsere Heimat in Trümmern.

Waffe, die: Substantiv, feminin

Gerät, Instrument, Vorrichtung als Mittel zum Angriff auf einen Gegner, zum Erlegen von Tieren, zur Zerstörung von Bauwerken, technischen Anlagen usw. oder zur Verteidigung (z.B. Hieb- oder Stichwaffe, Feuerwaffe)

14. April 1992. Der Tag unserer Flucht. Flughafen Sarajevo. Früher Morgen. Militärmaschinen aus Belgrad. Während die Waffen ausgeladen wurden, warteten wir auf der Wiese neben der Rollbahn, hinter dem Zaun, und mit uns viele andere. Gegen 18.00 Uhr landete "unser“ Flugzeug. Zwei Stunden später öffneten sie das Tor.

Die Menge stürmte los. Mutters Griff hinterließ rote Male an meinem Handgelenk. Noch heute spricht sie davon, wie ihr die Hand meiner Schwester entglitt. Sie sagt, sie wäre fast gestorben vor Angst. Immerhin haben wir alle das Flugzeug erreicht, Mutter, Vater, Nerma und ich.

Der Rest war Glück - oder Schicksal.

Männer durften die Stadt nur in Ausnahmefällen verlassen. Väter kleiner Kinder waren ein solcher Ausnahmefall. Manchmal jedenfalls. Wir waren bis zur letzten Sekunde nicht sicher, ob Vater mit uns kommen konnte. Wie gesagt. Wir hatten Glück.

Glück, das: Substantiv, neutrum

etwas, das Ergebnis des Zusammentreffens besonders günstiger Umstände ist; besonders günstiger Zufall, günstige Fügung des Schicksals

Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder man schaffte es ins Flugzeug, oder man blieb draußen. Wir sahen die Zurückbleibenden auf der Wiese. Manchmal frage ich mich, wieviele von ihnen heute noch am Leben sind.

Sie zogen uns die Kleider aus, bis auf die Unterwäsche, auch den anderen Kindern. Sie sagten, es wird heiß im Flugzeug und es wurde heiß. Schrecklich heiß.

Nur zwanzig Minuten bis Belgrad. Von dort mit dem Bus weiter nach Skopje. Meine Eltern hatten unsere Dokumente zu Verwandten geschickt. In Belgrad konnten wir ohnedies nicht bleiben. Zu gefährlich.

Skopje. April 1992. Urlaub bei Tante Ajisˇa, so sagten die Erwachsenen. Geglaubt haben wir ihnen nicht.

Wir warteten mehrere Wochen lang. Wir warteten und hofften.

Schließlich kamen die Papiere an und wir fuhren weiter. Weiler an der Zaber, ein kleines Dorf im Süden Deutschlands. 28. Juni 1992. Wir blieben fünf Jahre lang.

Dass wir Sarajevo rechtzeitig verlassen konnten, verdanken wir in erster Linie dem ehemaligen deutschen Arbeitgeber meines Vaters. Als der Krieg ausbrach, machte dieser meinem Vater ein Angebot. Er solle nach Deutschland kommen. Arbeit gäbe es genug. Firma Vollmer, Deutschland, Mitteleu-ropa, ein Leben in Frieden. Mein Vater nahm das Angebot an.

Vielleicht hat dieser Mann unser aller Leben gerettet. Sicher aber unsere Seelen, vor den Spuren des Krieges, vor den Schrecken der Belagerung.

Belagerung, die: Substantiv, feminin

das Einschließen und umzingelt Halten einer Stadt, Burg o.ä. zum Zwecke der Eroberung

Am Anfang war es schwer in der Schule. Die Kinder nannten uns Feiglinge. Sie sagten, wir hätten unsere Heimat verraten. Doch sie gewöhnten sich an uns und schon bald gewannen wir Freunde. Ich erinnere mich an diese Zeit als an eine schöne und vor allem eine normale. Dass wir Muslime waren, wusste zunächst niemand. Für uns selbst war es nichts Besonderes, mit Menschen anderer Konfessionen Freundschaft zu schließen. In Sarajevo leben wir seit Generationen miteinander. Wir wussten nicht, dass es in Deutschland anders ist.

Erst zu Weihnachten wurde unsere Religionszugehörigkeit allgemein bekannt, da wir zunächst mit den anderen feierten, jedoch nicht zur Kirche gehen wollten, was Anlass zu Fragen gab. Es war ein großes Staunen, für uns und für die anderen. Ich wusste bis dahin nichts über die Unterschiede der Religionen. Probleme gab es keine. Zu jenem Zeitpunkt waren wir bereits vollständig in die Dorfgemeinschaft integriert. Das Leben ging weiter und ich denke in großer Dankbarkeit zurück an meine Jahre in Deutschland.

Religion, die: Substantiv, feminin

Glauben an Gott oder an ein göttliches Wesen und der sich daraus ergebende Kult. Oftmals Anlass für Krieg und in Folge Anlass für Zerstörung,siehe dort.

Nach Ende des Krieges sind wir zurückgekehrt. Mit dem Flugzeug. Zurück in die Ruinen unserer Heimat. 13. August 1997. Niemand, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, kann sich das Ausmaß der Zerstörung vorstellen. Sie hatten Sarajevo nicht erobert, aber sie hatten es vernichtet.

Zerstörung, die: Substantiv, feminin

Beschädigung eines Objektes in einem Ausmaß, das es unbrauchbar macht

Fast vier Jahre lang kämpften die Menschen um ihr Leben und um ihre Freiheit. Tag für Tag für Tag. Es ist ihnen ja auch nichts anderes übriggeblieben. Unser Volk ist mutig und stolz! Ich weiß, dass es schwer war, für die, die geblieben sind. Ich weiß, dass wir Glück hatten. Großes Glück.

Am Anfang war es schwer, wieder hier zu leben. Die Nachbarn nannten uns Feiglinge. Sie sagten, wir hätten unsere Heimat verraten. Doch die Zeiten waren hart und jeder brauchte den anderen.

Wie so viele hatten auch unsere Verwandten ihr Haus verloren. Heute leben sie wieder darin. Der Wiederaufbau geht voran. Die Menschen arbeiten hart. Sie tun es bis heute. Wir haben keine andere Wahl in diesem Land. Es ist besser geworden, viel besser, beinahe gut. So sage ich. Nicht jeder teilt diese Ansicht. In Wahrheit gibt es hier bis heute mehr Meinungen als Menschen!

Seht uns an, unsere Stadt und unser Leben. Wir wollen, dass die Welt erfährt, was hier geschehen ist, damit es niemals wieder geschieht, nicht hier und an keinem anderen Ort! Der Frieden ist für alle Menschen der gleiche.

Frieden, der: Substantiv, maskulin

Zustand von Ruhe und Sicherheit; Zeit, in der kein Krieg herrscht

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