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Jubel und bittere Reue

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Ich habe gejubelt, ich habe mitgejubelt, sagte der alte Mann und hämmerte mit seiner dürren Faust auf den Tisch, und keine Träne wäscht den Makel ab — (doch das sagte er nicht mehr und hätte es auch nicht sagen können, denn er hatte seit seiner Kindheit nicht mehr geweint). Dennoch war in ihm ein Bittersee, seit einem Menschenalter ein Bittersee, er watete darin und schöpfte Wermut und Lauge und goß sich damit voll bis oben.

Ich habe mitgejubelt, sagte er, und sollte deshalb gar nicht mehr da sein, nicht mehr da sitzen auf meinem Stuhl, unter meinem Dach, mich nicht sättigen dürfen an der Speise der Glücklichen. Denn ich weiß, unser Jubel damals - er stieg wie Säulen zum Himmel - wir dachten: zum Himmel, aber in Wirklichkeit waren die Säulen des Jubels nichts als nur Trittsteine, auf denen sich der Übermut hoch und höher schwang. Das Unglück der Welt haben wir herbeigejubelt.

Hätten wir damals geschwiegen, finsteren Blickes, mit geballten Fäusten, vielleicht hätte das Unglück nie dieses Ausmaß erreicht. Statt dessen sind wir auf die Straßen gerannt, haben einander umarmt und Leuten Heü zugeschrien, die wohl selbst noch nicht wußten, was sie anstellen würden, was anzustellen sie fähig seien, aber unser Jubel hat sie dazu ermutigt.

Soll ich beginnen, sagte der alte Mann und rieb sich die Augen, beginnen, die Gründe aufzuführen, die uns zum Jubel bewegten? Not, Hoffnungslosigkeit und der Unmut eines Volkes über seine Regierung, die ihrem Volk nicht zu helfen wußte schon seit Jahren?

Der Gründe waren viele. Sie sind leicht abrufbar.

Es gibt tiefe Wurzeln, und die reichen in die Zeit vor uns. Denn da war Österreich groß gewesen, ein großer Staat, er hat uns infiziert, großstaatlich infiziert, mit seinem Stolz, seinen Adlern, seinen Kronen, mit seiner imperialen Geste. So haben wir uns nicht dreingefunden, weder wir noch unsere Eltern, daß wir nur klein sein sollten, ein kleines Land, schwach, abhängig vom Wohlwollen anderer.

So bildeten wir uns ein, wieder groß zu werden, Großem anzugehören; auch das Gründe für unseren Jubel, leicht abrufbar.

Ebenso könnte ich die Gründe aufsuchen, die uns den Jubel sehr schnell austrieben, Zweifel in Hoffnungen mengten, Mißbehagen keimen ließen, dann das jähe Erschrecken: Krieg. Es wird Krieg gemacht. Der Abgrund geht auf.

Lange Geschichten ließen sich darüber erzählen und lange Gegengeschichten, und Geschichten wie Gegengeschichten könnten immer nur wiederholen, was längst bekannt ist und würden immer nur von den Ohren vernommen, die ohnehin offen stehen, denn wer will schon hören, was ihn verdammt? Wer will hören, was das von ihm Verdammte erklärt und begründet, womöglich entschuldigt? Wir reden und reden und können uns heiser reden. Wir können uns erinnern und erinnern. Keiner, der damals starb, steht deshalb wieder auf. Kein ungelebtes Leben wird deshalb nachgeholt. Man gibt uns vor: wir sollen bewältigen. Aber wer kann schon bewältigen, was hinter ihm liegt? Bewältigung kann immer nur Zukunft meinen. Mahnmal ist überall.

Die einen knien davor nieder im Blitzlichtgewitter der Öffentlichkeit. Andere schleichen ferne daran vorbei, mit gesenkten Blicken, schweren Herzens.

Wer ist den Opfern näher?

Keiner kann sagen: Mein Gewissen ist rein. Aber auch keiner von den Jublern damals, er habe gewußt, das Ausmaß, die Summe ermessen oder auch nur erahnt, was selbst denen, die damals das Sagen hatten, erst allmählich aufging.

Meint ihr, die Jubler in jenen Tagen hätten weitergejubelt, wäre ihnen—in einer Vision—aufgestiegen, was später kam? Hätten sie die Ruinen erblickt, die Toten, die eigenen Söhne, Brüder, Männer, Freunde - durchbohrt, zerfetzt, verbrannt?

Glaubt ihr, sie hätten weitergejubelt, wären ihnen die Szenarien Warschau, Dresden oder gar Auschwitz wie in einem Alptraum aufgegangen?

Sie wären davongestürzt und hätten sich bebend und winselnd in einem Winkel verkrochen, um dann aus diesem Winkel aufzubrechen und sich zur Wehr zu setzen.

Man sagt: Wir waren damals mit Blindheit geschlagen. Mir scheint: Diese Art Blindheit ist grundbefindlich im Menschendasein.

Wann wissen wir, was wir tun?

Wir tragen Verantwortung, ohne zu ahnen wofür.

Jeder hat sein Teil Schuld an dem, was die Zukunft bringt. Aber die Zukunft ist dunkel.

Wir stellen Weichen für Strek-ken, die noch nicht gebaut sind. Wir geben Unterschriften zu Texten, die noch nicht geschrieben sind. Wir schwören auf etwas, was uns noch nicht mitgeteilt worden ist. Das ist Schuld.

Ich habe mitgewirkt an dieser Schuld, sagte der alte Mann, mitgewirkt am Unglück dieser Welt— und stieß sich die dürre Faust ins Gesicht.

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