Luzide Träume: Helle Momente im Dunkeln

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Luzide Träume ermöglichen hyperreale Erlebnisse - mitten im Schlaf. Sie haben sich in der Behandlung von Albträumen bewährt, wecken heute aber auch das Interesse privater "Psychonauten".

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Luzide Träume ermöglichen hyperreale Erlebnisse - mitten im Schlaf. Sie haben sich in der Behandlung von Albträumen bewährt, wecken heute aber auch das Interesse privater "Psychonauten".

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"Gestern Nacht träumte ich, ich wärʼ ein Schmetterling, und flog von Blume zu Blume. Da erwachte ich und siehe: Alles war nur ein Traum. Jetzt weiß ich nicht: Bin ich ein Mensch, der träumte, er sei ein Schmetterling, oder bin ich ein Schmetterling, der träumt, er sei ein Mensch?" Diese Zeilen stammen nicht von einem poetisch ambitionierten Psychiatrie-Patienten, sondern von Meister Zhuang, einem chinesischen Philosophen (ca. 365-290 v. Chr.), der eines der Hauptwerke des Taoismus verfasst hat. Das Leben, ein Traum? Luzide Träume jedenfalls sind so klar und lebhaft, dass sie durchaus real, manchmal sogar hyperreal erscheinen. Und im Gegensatz zur trüben Traumwelt, in die wir Nacht für Nacht eintauchen und deren Inhalte wir schlafend für bare Münze nehmen, gibt es in diesen Klarträumen ein reflexives Bewusstsein über den Traumzustand: Der luzide Träumer weiß, dass er gerade träumt.

Fantastische Flüge

Robert G. (Name von der Red. geändert) kennt das aus eigener Erfahrung. Wenn ihm etwas Ungewöhnliches passiert, hält er sich die Nase zu -ein sogenannter Realitätscheck: Wer weiß, vielleicht ist er gerade in einem Traum und hat jetzt eine der kostbaren Chancen, "luzide zu werden". Wenn er trotz verschlossener Nase weiter Luft bekommt, stimmt etwas nicht: Er träumt tatsächlich. Und hat von nun an die Gelegenheit, diesen Traum bewusst mitzuerleben und eventuell auch Einfluss auf das Geschehen zu nehmen.

Robert hörte in den 1990er-Jahren erstmals vom luziden Träumen. Das Thema faszinierte ihn, er suchte in Büchern und stöberte im Internet. Nach einem Jahr war es soweit: Er wurde sich schlafend eines Traumes bewusst. "Es ist, wie wenn ein Schleier verschwindet. Das erste Mal bin ich abgehoben und über ein riesiges Feld geflogen. Unter mir sah ich eine Herde von Dinosauriern. Ich flog weiter und bin an einem Strand gelandet", erzählt der 46-jährige Wiener. "Nach dem Aufwachen durchströmte mich ein Glücksgefühl. Das Fliegen so deutlich erlebt zu haben, gehört für mich zu den schönsten Erlebnissen." Immer wieder stellten sich bei ihm nun luzide Träume ein. Sobald er sich im Traum bewusst wird, sucht er gleich nach einer Anhöhe, um wegzufliegen, sagt Robert. Davor macht er nochmals den Nasentest, zur Sicherheit. Manchmal startet er auch direkt aus dem Fenster. Einmal erreichte er eindrucksvolle Flughöhe: Von seiner Wohnung flog er bis nach Südamerika, schließlich landete er im Kolumbien des 19. Jahrhunderts.

Den Nasentest als Realitätscheck möchte Psychologin Brigitte Holzinger nicht empfehlen. "Für manche Menschen mag das stimmig sein. Doch man könnte ja auch nur träumen, dass man nicht durch die Nase atmen kann", sagt die Wiener Schlafforscherin. Das weiß auch Robert G.: "Da bin ich schon einmal genarrt worden, der Traum hat mir etwas vorgespielt." Der unverfänglichste Realitätscheck sei das Lesen, sagt Holzinger: Man liest mehrere Worte, blickt weg, liest das Ganze nochmals. Hat sich das Geschriebene in der Zwischenzeit verändert oder ist es gar verschwunden, befindet man sich zweifellos in einem Traum. Denn das träumende Gehirn schafft es nicht, zweimal dieselben Wortsequenzen vorzuspielen. Die Expertin rät jedoch davon ab, sich überhaupt auf die Frage des "Träumen oder Wachen?" zu konzentrieren - insbesondere bei Menschen, die möglicherweise zu psychotischem Erleben und Realitätsverlust neigen. "Ich rate da zur Vorsicht: Man weiß bislang nicht, wie sich das auf Personen mit erhöhtem Psychose-Risiko auswirkt."

Seit dem Oscar-prämierten Science-Fiction-Film "Inception"(2010), bei dem Elemente des Klartraums auch ästhetisch umgesetzt wurden, habe das allgemeine Interesse an diesem Phänomen zugenommen, so Holzinger. Dass man in Internet-Foren zum eigenständigen Experimentieren mit luziden Träumen animiert wird, sieht die Leiterin des Instituts für Bewusstseins-und Traumforschung aber kritisch, denn es könne zur bedrohlichen Überflutung mit inneren Bildern und Gefühlen kommen: "Luzides Träumen ist ein wunderbarer Zustand, aber man muss respektvoll damit umgehen. Im Zweifelsfall würde ich eine therapeutische Begleitung empfehlen. Schließlich hat man es mit dem eigenen Seelengerippe, also der Psychodynamik zu tun, und da hat jeder seine blinden Flecken und wunden Punkte." Manche sehen im luziden Träumen tatsächlich einen Weg zur Persönlichkeitsentwicklung, wie Robert aus Internet-Foren weiß. Er selbst träumt bislang auf der "Unterhaltungsschiene". Zweimal jedoch wollte er erkunden, warum er oft grundlos von schlechtem Gewissen geplagt wird. "Ich habe hierzu Personen gefragt, denen ich im Klartraum begegnet bin. Beide haben mir die Frage nicht beantwortet. Doch beim zweiten Mal schien eine Antwort schon im Raum zu liegen", berichtet der leitende Angestellte.

Paradoxer Seinszustand

Der therapeutische Wert des luziden Träumens liegt eigentlich in der Behandlung von Albträumen. Brigitte Holzinger war an Studien beteiligt, in denen die Wirksamkeit dieser Methode bestätigt werden konnte. Die Erleichterung, die man beim schweißgebadeten Aufwachen aus einem Albtraum verspürt -"alles nur ein Traum" - kann beim Klartraum bereits während des Träumens um sich greifen. Und im Idealfall gelingt es, Handlungsspielraum zu gewinnen und Einfluss auf das Traumgeschehen zu nehmen. Man ist dem üblen Szenario nicht mehr ausgeliefert, der Schrecken verblasst. Holzingers Lieblingsmethode, um luzide Träume zu begünstigen, ist ein Schlaf-und Traumtagebuch. Dadurch fördert man die Erinnerung an das Traumgeschehen, was künftiges Bewusstwerden im Traumzustand triggern kann. Auch Methoden zur Tiefenentspannung gelten als hilfreich. Die Wiener Psychologin sieht im luziden Träumen eine Art von Trance-oder Flow-Zustand: eine paradoxe Seinsweise, bei der große Gelöstheit -ein natürliches Merkmal des Schlafens -mit gesteigerter Präsenz einhergeht, ähnlich wie bei Hypnose oder meditativen Bewusstseinszuständen. Luzide Träume treten bei jungen Menschen zwischen sechs und 14 Jahren mit erhöhter Häufigkeit auf, was wohl auf Phasen der Gehirnentwicklung zurückzuführen ist.

Virtuelle Realitäten

Hirnforscher gehen davon aus, dass beim Klartraum zusätzliche Nervenverbindungen aktiviert werden, die während des normalen Träumens gleichsam auf Eis gelegt sind. Durch elektrische Hirnstimulation etwa konnten Klarträume bereits gezielt ausgelöst werden. Der deutsche Philosoph Thomas Metzinger vermutet, dass in absehbarer Zeit elektrische Schlafkappen verbreitet sein könnten, mit denen sich luzide Träume bei den Schlafenden einschalten lassen wie die Lampe durch den Lichtschalter. "Ein luzider Traum ist die globale Simulation einer Welt, in der wir uns plötzlich der Tatsache bewusst werden, dass es sich wirklich nur um eine Simulation handelt", schreibt er in seinem Buch "Der Ego-Tunnel"(Piper, 2014). Das "Ich" der trüben Träume hingegen ist "in einem Wahn gefangen, ihm fehlt die Einsicht in das Wesen des Zustands, den es selbst erzeugt".

Weitaus eher als solche Schlafkappen werden sich wohl Technologien zur Simulation virtueller Realitäten (VR) verbreiten. Mittels Spezialbrille und entsprechender Software taucht man ein in andere Welten: historische Szenen, erhabene Naturlandschaften, faszinierende Städtetrips, atemberaubende Action-Erlebnisse beim Bergsteigen und Autofahren. Ereignisse werden nachgefühlt und nacherlebt - als ob man mittendrin im Geschehen wäre. Physiologisch macht es natürlich einen Unterschied, ob man im Wach-oder Schlafmodus ist. Und während es im Fall der VR künstliche Welten sind, die von Technikern designt werden, hat man es beim luziden Träumen stets mit den Bildern aus der eigenen Innenwelt zu tun. Womöglich aber führt die virtuelle Realität zu einer Steigerung des Einfühlungsvermögens in andere Innenwelten. Man könnte sich sogar in einen Schmetterling verwandeln und dann vielleicht auch fähig sein, die fundamentale Frage des Meister Zhuang für ein paar Augenblicke nachzuvollziehen.

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