Nazi, Stasi, Harakiri

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Magdalena Agdestein spürt den unterirdischen Strom der Vergangenheit auf.

Wir leben nicht, wir erinnern und die Wahrheit ist - wenn überhaupt - nur in der Ferne auszuhalten.

In Mauthausen geboren zu sein, ist - auch wenn dies nach der Befreiung vom Nationalsozialismus geschehen ist - eine besondere Belastung. Die Übersiedlung nach Norwegen bedeutet für Johanna in Magdalena Agdesteins Roman "Nachlass" nicht den Beginn des Vergessens, sondern schärft den Blick. Wie durch ein in die Vergangenheit gerichtetes Fernrohr spürt Johanna mit ihrer Therapeutin vergangenen Lichtern nach. Die Worte, Wendungen und Formeln sind wie Gestirne, die immer noch leuchten, ihr Licht hilft jedoch nicht, die Wirklichkeit zu erhellen, sondern deckt alles zu mit dem Schleier der Verharmlosung und erzeugt Trugbilder von Parallelwelten, in die sich nicht nur die Verlierer des Krieges flüchteten.

Erinnern in Bildern

Auch die Familienangehörigen wurden wie in einem Strudel dorthin mitgezogen. Dass das Schulmädchen Johanna gegen diesen Strom schwimmt, ist Zufall. Diesen Prozess beschreibt Agdestein, die wie die Hauptfigur in Mauthausen geboren und nach Norwegen ausgewandert ist, in kurzen Kapiteln. Schritt für Schritt entsteht ein Bild der Familie: der Vater etwa, der auf die Engländer schimpft. Schemenhaft tauchen Wirtshausszenen auf, in denen vom "Judenstechen" die Rede ist. Die Umgebung von Mauthausen wird parzelliert zum Beispiel durch Spaziergänge mit der Schulklasse und dann heißt es: "beim KZ draußen", eine gebräuchliche Ortsangabe. Das politische Gefüge im Nachkriegs-Österreichs wird durch die Existenz von Roten und Schwarzen geprägt. Und Johanna darf nicht mit Buben spielen und mit dem Edi schon gar nicht, denn das sind Rote.

Worte und Kürzel sind so fremd wie Gestirne. "Nazi, das klang irgendwie lustig. Aber mit der Zeit sollte ich lernen, mich nicht täuschen zu lassen vom Klang der Wörter, weil es auch Wörter im Schafspelz gab. Nazi, Stasi, Nagasaki, Harakiri. Die Geschichtsbücher sind voll davon." Die Familie von Johanna meidet das Konzentrationslager bei Spaziergängen und der Großvater war immer bloß ein Verwalter eines Steinbruches. Durch das bloße Faktum ihrer Herkunft wurden "Assoziationen und Erinnerungen ausgelöst", die verdeutlichten "dass jene Vergangenheit noch untergründig weiterlebt", gleichgültig wohin man geht.

Verschleiern

So versucht Johanna immer, auch im Ausland, den Geburtsort zu verschleiern, antwortet auf Fragen ausweichend und prompt wird im small talk die Lüge entdeckt. Ihre neue Arbeit soll Ablenkung von den dunklen Gedanken garantieren - ihr Chef aber "rächt" sich mit kleinen verbalen Nadelstichen, weil er seinen Vater und seinen Bruder im Konzentrationslager verloren hat. Keine Befreiung also nach der Befreiung.

Agdestein gelingt es, den Fluch des Erinnerns in Bilder zu fassen. "Sie spürte, wie sich ihr innerer Blick schärft, wie seine Linse sich zusammenzieht zu einem Punkt, der sich wie ein bleiernes Lot in den Brunnen der Erinnerung senkt, hinunter bis auf den Grund, den es aufwirbelt und von dem es Partikel aufsteigen lässt." Doch ihre Johanna erinnert sich nicht nur, sie treibt es ans Meer, an den Strand, Steine werden geklaubt und gewendet, Gestalten rufen und locken und zu viele Bilder werden angesichts der unausweichlichen Seelenqual bemüht: Eine unterirdische Flutwelle, Tsunami genannt, zum Beispiel, die ganze Siedlungen wegschwemmt. Da gibt es eine Rahmenhandlung, die bedeutungsschwanger doch in der Luft hängt, da fließen dann auch Luft und Meer ineinander und "umschließen diese steinerne und dennoch pulsierende Einheit und tragen sie hinein in etwas, was ohne Anfang und Ende ist. Sie fühlt sich so leicht, so leicht. Sie ist Haut, sie ist Stein. Sie spürt sich im Auflösen der Konturen." Schade, dass die Sprache von Agdestein so ausfranst, wo es ihr doch an einigen Stellen hervorragend gelungen ist, die Welt mit den Augen eines Kindes fragmentarisch und daher neuartig zusammenzusetzen.

Nachlass

Roman von Magdalena Agdesteins

Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec 2004

143 Seiten, geb., e 19,50

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