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Der Jolly Joker der Götterwelt

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Sten Nadolny, der „Entdecker der Langsamkeit“, hat einen von der Kritik unterschiedlich aufgenommenen, aber mit einem Feuerwerk an Einfällen angereicherten Roman geschrieben.

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Sten Nadolny, der „Entdecker der Langsamkeit“, hat einen von der Kritik unterschiedlich aufgenommenen, aber mit einem Feuerwerk an Einfällen angereicherten Roman geschrieben.

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Daß die Werbung nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, ist ein Satz des Hephaistos. Wenn in dieser zu sehen ist, daß vor einem Bahnhofskiosk zwei Aktenkoffer vertauscht werden, dann ist das ein hermetisches Erlebnis. Ein ähnliches hatte Sten Nadolny bei seiner Ankunft in Wien. Er nahm einen Koffer vom Flughafen-Fließband, der seinem zum Verwechseln ähnlich sah, er hatte, so Nadolny beim Pressegespräch in der „Österreichischen Gesellschaft für Literatur“, „sogar an der gleichen Stelle eine Delle“. Erst als er das Gepäckstück im Hotel aufsperren wollte, bemerkte er, daß es nicht sein Koffer war.

Ein Erlebnis, das als Triumph der Phantasie über die Wirklichkeit betrachtet werden kann. Und genau darum geht es in Sten Nadolnys neuem Buch „Ein Gott der Frechheit“. Denn aus solchen „Zufällen“, für die man offen sein muß, entstehen Ehen - und zwar nicht (nur) in Hollywood-Filmen oder schlechten Romanen, sondern in Wirklichkeit. (Bei Nadolny war es allerdings „nur“ der österreichische „Football- Trainer“, der den falschen Koffer aus dem Flughafen trug).

Der 1942 geborene in Preußen ge borene und in Oberbayern aufgewachsene Autor geht sehr willkürlich mit der altehrwürdigen griechischen Mythologie um. In diesem Roman, der 1990 beginnt und nach der Jahrtausendwende endet, ist der antike Gott der Schmiede und des Handwerkes, Hephaistos gleich zum Gott der Mathematik, Technik und Logik, und damit zum Beherrscher der Welt geworden, der dieser Welt allerdings überdrüssig geworden ist. Hermes dagegen, der von dem Schmiedegott vor über 2.000 Jahren an eine Felswand auf Santorin gekettet worden war, steht für List und Tücke, Phantasie und Frechheit. Das also, was unsere rationalisierte Welt zur Rettung bedarf: „Die Welt, so fühlte man 1990, war an dem Punkt, an dem sie vielleicht mit göttlicher Hilfe verspieltes Glück zurückstehlen konnte“.

Die Geschichte aber ist jene der Helga Herdhitze, eines 19jährigen Mädchens aus Stendal in der Altmark, die sich im Winckelmann- Museum in eine kleine, bronzene Hermes-Statue verliebt und so den Gott zu neuem Leben erweckt. Auf ihrer ersten Auslandsreise nach dem Fall der Mauer erlebt sie (als einzige) dann die Befreiung des Hermes von den Ketten des Hephaistos. Dann be-ginnt die Reise quer durch Europa.

Es wäre entschieden zu hoch gegriffen, dieses Buch mit Robert Mu sils „Mann ohne Eigenschaften“ zu vergleichen, doch eine Grundidee daraus findet sich auch bei Nadolny: „Man hat Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren. Man liegt nicht mehr unter einem Baum und guckt zwischen der großen und der zweiten Zehe hindurch in den Himmel, sondern man schafft“, heißt es im elften Kapitel. Und der von Musil sobenannte Möglichkeitssinn trägt auch den „Gott der Frechheit“. Warum soll es deshalb nicht möglich sein, daß Hermes sich in andere Wesen versetzt, indem er durch deren Ohr in die Gehirne eindringt und diese Menschen, in denen er nistet, auch ein wenig manipuliert.

Von solchen Einfällen strotzt dieses Buch und das ist zugleich seine Stärke und Schwäche. Manchmal übertreibt Nadolny die Skurrilität denn doch, was ihm von der, „Presse“ auch sehr übel genommen wurde. Vielleicht auch deshalb, weil Nadolny, nach eigener Aussage, Fallen für Journalisten eingebaut hat, weil diese „Satzpickhühner“ seien und er der Versuchung, ihnen Sätze hinein-zuschreiben, nach denen sie picken können, nicht immer widerstanden hat. Was Nadolny stört ist, „gerade die Leute, die nichts von ihm wissen wollten, stellten ihm eine Frage nach der anderen.“

Man sollte dieses Buch, das äußerst vergnüglich zu lesen ist, des halb auch nicht auf Hephaists Amboß legen. Von der „Alten Schmiede“ aus betrachtet (dieser Wiener Veranstaltungsort kommt tatsächlich vor) hat es sich Nadolny sicher „zu leicht gemacht“, und die Rache des hinkenden Gottes hat den Autor auch erreicht, indem er den 90jährigen, letzten im Familienbesitz befindlichen Publikumsverlag Deutschlands, den Piper-Verlag, an den schwedischen Konzern Bonnier verkaufen ließ. Man wird abwarten müssen, ob der unzuverlässige Hermes dem Autor samt seinem Verlag hold bleibt oder sich aus dem Staub macht.

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