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Ferien

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Über Zeugnisse, die nur Kinder bekommen - und den zweiten Socken, den man im Herbst suchen wird.

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Über Zeugnisse, die nur Kinder bekommen - und den zweiten Socken, den man im Herbst suchen wird.

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Auf dem Schreibtisch zwei Lehrbücher für Physik, eines für Mathematik, ein vereinsamter Tennissocken, ein Kalender mit freudig durchgestrichenen Schulwochen, eine Sammlung Schreibwerkzeuge ohne den Lieblingskugelschreiber — mein Sohn, der Gymnasiast, hat bereits das Weite gesucht. Ferien.

Die Morgensonne wirft ein Jalousienzebra über Schultasche und verwaiste Gitarre, auf dem Fensterbrett ein Kalender mit dem phantasievollst in Orange umrandeten Wort ,Sommerferien". Wir sind schon mitten drin. In ein paar Jahren werden Maturatermine auf seinem Kalender stehen, und dieses Blatt werde ich mir dann aufheben, wie ich mich kenne.

Ich setze mich an den leer wirkenden Schreibtisch, will den Socken wegräumen, lassen es bleiben, er ist ohnehin frisch gewaschen, nach dem zweiten werde ich später suchen. Schön hat er's hier, der Herr Schüler, so ruhig und hell. Ich denke an die vielen Kinder, die ich schon in Gastwirtschaften hinter der Schank, an Kantinentischen diverser Theater, beim einzigen Tisch einer Bergbauernhofküche und in Kaffeehäusern neben der Eingangstüre habe Schulaufgaben machen sehen. Dagegen ist dieser Tisch hier ein privilegierter, ein feudaler Arbeitsplatz. Das Zeugnis war nicht ganz so feudal.

Wie war das Schuljahr? Jetzt, hier in der sommerlichen Ferienstille meine ich mein Schuljahr, nicht seines. Ich meine mein Schuljahr an seiner Seite. Wie oft habe ich gefehlt? Entschuldigt oder unentschuldigt. Sind die Übungshefte mit der Übersicht über meinen Zeitaufwand für mein Schulkind voll der leeren Seiten? Meine Betragennote zum Beispiel wäre auch ganz aufschlußreich. Wie steht es mit der Mitarbeit? Wie sehen die Tests darüber aus? In den Freigegenständen habe ich sicher largiert. Mir schreibt ja keiner ein Zeugnis. Den Lehrern auch niemand. Es war doch unser aller Schuljahr. Oder nicht?

Ich schlage das Physikbuch auf. Das Atom als Grundlage der modernen Naturwissenschaft. Der Energiehaushalt der Erde und der Menschheit. Hab ich das auch einmal alles gelernt? Er ist eher für den Bau von Hainburg, ich eher dagegen. Verstehen tun wir beide nichts davon. Darüber zumindest sind wir uns einig geworden. Die richtige Entscheidung steht auch nicht im Physikbuch. Auch darüber waren wir uns einig.

Ich habe die besten Vorsätze für das kommende Schuljahr. Wirklich.

Aber jetzt sind Ferien. Weg mit den Physikbüchern. Weg mit dem Mathematikbuch. Den zweiten Socken suche ich im Herbst.

Es sind unser aller Ferien.

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