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Köpfe von Notre-Dame

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Das Musėe de Cluny im Saint-Germain-des-Pres-Viertel zeigt sechs Monate lang in einer Sonderausstellung die Spitzenstücke einer nicht nur für Paris bedeutsamen archäologischen Entdeckung. In 50 Zentimeter Tiefe unter dem Keller eines ehemaligen Pariser Privatpalais, in dem heute die französische Bank für Außenhandel installiert ist, grub man bei Erweiterungsarbeiten zufällig 364 Teilstücke von Steinskulpturen aus, die fast ausnahmslos als Fragmente des ehemaligen Fassadenschmucks der Kirche Notre-Dame identifiziert wurden. Wahrhaft sensationell ist nicht nur das, wenn auch bruchstückhafte, Wiederauftauchen der während der französischen Revolution abgeschlagenen und seitdem für immer verloren geglaubten Figuren. Für die Paris-Historiker ist nun die Neuschreibung der Geschichte der berühmten Pariser Kathedrale fällig.

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Das Musėe de Cluny im Saint-Germain-des-Pres-Viertel zeigt sechs Monate lang in einer Sonderausstellung die Spitzenstücke einer nicht nur für Paris bedeutsamen archäologischen Entdeckung. In 50 Zentimeter Tiefe unter dem Keller eines ehemaligen Pariser Privatpalais, in dem heute die französische Bank für Außenhandel installiert ist, grub man bei Erweiterungsarbeiten zufällig 364 Teilstücke von Steinskulpturen aus, die fast ausnahmslos als Fragmente des ehemaligen Fassadenschmucks der Kirche Notre-Dame identifiziert wurden. Wahrhaft sensationell ist nicht nur das, wenn auch bruchstückhafte, Wiederauftauchen der während der französischen Revolution abgeschlagenen und seitdem für immer verloren geglaubten Figuren. Für die Paris-Historiker ist nun die Neuschreibung der Geschichte der berühmten Pariser Kathedrale fällig.

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Vor allem wird man sich mit 21 (von ursprünglich 28) Köpfen alttestamentarischer Könige befassen, die von den Revolutionären für französische Könige gehalten wurden. Ein Befehl, alle bildlichen Darstellungen des französischen Königtums zu vernichten, schloß ausdrücklich auch die „Köpfung dieser steinernen Könige, die das Portal der Kirche erdrücken”, ein. Zunächst entfernte man nur die Kronenomamente, dann brach man die gesamten gewaltigen Statuen heraus. Das war am 23. Oktober 1793. Drei Jahre blieb der Skulpturenhaufen vor der Kathedrale dem Spott der Pariser ausgesetzt. David, Napoleons späterer Hofmaler, schlug vor, die Steinmassen für ein „dauerhaftes Denkmal zum Ruhm des Volkes” zu verwenden. Schließlich wurden sie als Baumaterial versteigert und gelangten an einen Pariser Bauherren, dessen Pietismus oder heimlicher Monarchismus am Ende stärker gewesen sein müssen: Er ließ die 65 cm hohen Köpfe säuberlich aufgereiht in Richtung Notre-Dame mit dem Gesicht nach unten vergraben. Trotz teilweise erheblicher Verstümmelungen sind diese Königsköpfe mit ihren Spuren farbiger Bemalung an Haaren, Mündern, Wangen und Augäpfeln schön und ergreifend. Eine Identifizierung ist jedoch - nicht zuletzt wegen der fehlenden Rümpfe - nicht mehr möglich.

Die leeren Bogenfelder der die gesamte Westfassadenbreite einnehmenden „Galerie der Könige” waren zwar im 19. Jahrhundert nach Anweisungen des Baumeisters Viollet-le- Duc gefüllt worden. Der Propagandist der Gotik, dessen romantischem Temperament der Neoklassizismus etwa der Madeleine oder des Pantheon unerträglich war, befaßte sich bis zu seinem TodAnit der „Säuberung” von Notre-Dame von allen im 17. Und 18. Jahrhundert vorgenommenen Veränderungen und Zusätzen. Daß seine nachempfundenen Könige von den historischen Originalen weit entfernt sind - auch das kam nun zutage, und unter den vielen wichtigen Details auch dieses: Die früheren Statuen standen auf von kleinen Figuren getragenen Sockeln, was Viollet-le-Duc in fast allen Fällen ignorierte.

Die übrigen, ebenfalls von anonymen Künstlern stammenden Elemente sind zum Teil so reichhaltig, daß jetzt die Rekonstruktion des An- nen-Portals (des rechten Portals an der Westfassade), dessen ursprünglicher Figurenschmuck bisher nur vage bekannt war, an Hand von Fragmenten von mindestens acht Säulenstatuen möglich geworden ist. Als Teile des ein halbes Jahrhundert später errichteten Mittelportals, von dem kaum bildliche Darstellungen überliefert und noch weniger Figurenfragmente erhalten sind, wurden zwei Fundstücke identifiziert Das Geheimnis des Marien-Portals, des Gegenstückes des Annen-Portals, ist zwar auch jetzt nicht gelüftet, ein Engelkopf, der mit Sicherheit aus dem einstigen Figurenensemble stammt, kann aber zu den Meisterwerken des beginnenden 13. Jahrhunderts gezählt werden.

Zum ersten Mal ist Wissenschaftlern und Publikum die Möglichkeit gegeben, sich eine reale Vorstellung von dem ehemals reichen Figurenschmuck der heute eher entblößt wirkenden Kathedralenfassade zu machen. Wo dieser unverhoffte Schatz, der juristisch Eigentum der Bank ist, sicher aber dem Staat geschenkt wird, endgültig aufgebaut werden kann, ist noch ungeklärt) Bewerber sind das Musėe de Cluny, der Louvre und die Krypta von Notre-Dame.

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