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Skepsis ist angebracht

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Schon einmal habe ich an dieser Stelle ins Gedächtnis gerufen, wie wenig man sich außerhalb der deutschen Grenzen darüber beunruhigt, daß es in der einstigen DDR ein geradezu undenkbar dichtes Netz an Geheimdienstagenten gegeben hat. Die fest etablierten Agenten und die „informellen Mitarbeiter" durchsetzten den Alltag, und es erfüllt einem mit Schrecken, wenn darüber diskutiert wird, ob jeder fünfte oder jeder dritte mit dem Stasi in direkter Verbindung stand.

Die Entdeckungen, die viele Tausende in der Berliner Joachim-Gauck-Behörde über ihr jahrzehntelanges Leben mit Spitzeln und Wanzen, mit abgehörten und penibel dokumentierten Telefongesprächen, fotografierten Briefen machen, gehört zu den schaurigsten Kapiteln der Geschichte: beste Freunde, sogar Ehepartner sind als geheime Informanten entlarvt.

Freilich ist die Überlegung einzubeziehen, daß die deutsche Gründlichkeit, vielgerühmt, aber eben auch mitunter verhängnisvoll, die kommunistischen Usancen in Hochform gebracht hat, daß die Methoden des Kreml fast musterschülerhaft ins Extrem getrieben wurden. In der Sowjetunion herrschte weitaus mehr Schlamperei, die Archivierung klappte keineswegs so genau wie in preußischen Ämtern. Auch herrschte in der UdSSR, aber ebenso in der CSSR, in Ungarn, in Polen, Rumänien. Bulgarien eine erheblich größere Bequemlichkeit.

Natürlich drängen sich Vergleiche mit der Nazizeit und mit der Gestapo auf, mit dem damaligen Spitzelunwesen, doch als Zeitzeuge muß ich erkennen, daß der damals entwickelte To-talitarismus zwar ungemein brutal, aber weitaus weniger differenziert, weniger raffiniert, weniger erfahren und psychologisch nuanciert gewesen ist. In der DDR - und in abgewandelter Form in allen anderen kommunistischen Staaten - machten sich Partei und Regierung eine geradezu unverständliche Mühe, das Volk auszuhorchen und aktiv zu manipulieren. George Orwell erweist sich als nicht sehr kompetent, weil der Stasi viel stiller und unauffälliger vorging. Soweit es gelang, wurde jegliche akute Dramatik vermieden.

Im Nachdenken über die nun offenliegenden Verhältnisse überfällt einem unwillkürlich die gespenstische Vorstellung, daß es vielleicht möglich gewesen wäre, mehr „informelle Mitarbeiter" des Stasi zu gewinnen als es zu bespitzelnde Bevölkerung gab. Und lohnte sich das alles?

Am wichtigsten aber scheint die Überlegung: Sind die Westdeutschen anders als die Ostdeutschen? Wären sie und die Österreicher, Italiener, Franzosen unter gleichen Umständen anders als die DDR-Bürger? Wie würden sich unsere Bekannten, unsere Kollegen et cetera (und wir selbst) in einem solchen System verhalten haben? Solche Gedanken sollten uns warnen und veranlassen, die eigene Situation kritisch und skeptisch zu betrachten.

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