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Unmündige Abgeordnete

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Ein Aufschrei hätte durch's Land gehen müssen. Doch offenbar sind wir alle, Bürgerinnen und Bürger, Journalisten und Parlamentarier schon derart abgestumpft von sich häufenden Skandalen, Korruptionsfällen und politischem Marktgeschrei, daß wir gar nicht mehr wahrnehmen, wenn die „Sensation" zur Verletzung von Becht und öffentlicher Moral ausartet.

In der Plenarsitzung des Parlaments am 23. April las F-Führer Haider triumphierend eine Verschlußsache des Innenministeriums vor. Sie sollte den politischen Gegner - in diesem Fall den amtierenden Innenminister - in Bedrängnis bringen und möglichst stürzen. Heftig debattiert wurde dann, stundenlang, über den Inhalt der Verschlußsache, nicht über die Tatsache, daß der Dieb des Dokuments (unter Bruch seines Diensteides, falls er Beamter war) dieses Haider zukommen ließ und diesem unter Nutzung des Diebsguts einen erbärmlichen Triumph ermöglichte.

Was ist los mit unserem Parlament? Wieso ist der Präsident nicht eingeschritten? Diesmal nicht, bei ähnlichen Gelegenheiten in der Vergangenheit auch nicht. Wieso kein Tadel eines Gesetzesbruchs, der jedes Vertrauen innerhalb der Verwaltung zerstören muß?

Heinz Fischer unterbrach die Sitzung wegen des entstandenen Tumultes, nicht aber seines düsteren Anlasses wegen.

Information und Informationsbeschaffung sind ein Lebenselement der Demokratie. Ihr Mißbrauch gefährdet sie. Für Journalisten ist der Ehrenkodex des österreichischen Presserats unmißverständlich: „Die Grenzen der (publizistischen) Freiheit liegen in der Rechtsordnung und in der freiwilligen Selbstbeschränkung..."

Ein Ehrenkodex für das österreichische Parlament? Offenbar genügt unsere Verfassung nicht mehr. Sie wird von Regierung und Abgeordneten, die schon längst auf ihr freies Mandat pfeifen, das jeden Klubzwang ausschließt, mißachtet.

Durch die verbale und praktische Aushöhlung der Neutralität, oder kürzlich, als sie in den Budgetverhandlungen 99 Gesetzesänderungen erließen, von denen eine Reihe als Verfassungsbestimmung rückwirkend in Kraft gesetzt wird. Das ist nicht nur unelegant, sondern führt den Parlamentarismus ad absurdum, auch wenn es rechtlich gedeckt sein mag.

Die Opposition wehrte sich, aber die Zweidrittel-Mehrheit der Regierungsklubs fuhr drüber. Sicher waren unter ihnen auch Frauen und Männer, denen nicht wohl dabei gewesen ist, aber auszusprechen wagte es offenbar niemand. Undenkbar, etwa im englischen House of Commons, der Mutter der Parlamente.

Die Demokratie, so hören wir oft, erfordert den mündigen Bürger. Doch im Hohen Haus sitzt eine gewaltige Mehrheit unmündiger Abgeordneter.

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