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Es geht, wenn man will

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Während Wien etwas ratlos an seiner Fußgängerzone herumbastelt, wobei sich Halbheiten partout nicht zur Ganzheit entwickeln wollen, hat sich Münchens Fußgängerbereich in den nun fast eineinhalb Jahren seines Bestehens zum vielbewunderten Vorbild derartiger Experimente hinaufgemausert. Ein völlig neues Stadtgefühl — so meinen die Münchner und „Zuagroaste“ mit gleichem Stolz — beginne sich hier zwischen Karlstor und Marienplatz zu entwickeln. Der in Großstädten bereits ziemlich selten gewordene Anblick von Kindern, Hunden und Tauben reaktiviere die zwischen Auspuffgasen und Großstadthetze abgeschafften Lebensgeister. Mit einem Wort: Münchens schmucker Bummel-Boulevard beginnt — neben dem Oktoberfest —; Münchens Aushängeschild zu werden.

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Während Wien etwas ratlos an seiner Fußgängerzone herumbastelt, wobei sich Halbheiten partout nicht zur Ganzheit entwickeln wollen, hat sich Münchens Fußgängerbereich in den nun fast eineinhalb Jahren seines Bestehens zum vielbewunderten Vorbild derartiger Experimente hinaufgemausert. Ein völlig neues Stadtgefühl — so meinen die Münchner und „Zuagroaste“ mit gleichem Stolz — beginne sich hier zwischen Karlstor und Marienplatz zu entwickeln. Der in Großstädten bereits ziemlich selten gewordene Anblick von Kindern, Hunden und Tauben reaktiviere die zwischen Auspuffgasen und Großstadthetze abgeschafften Lebensgeister. Mit einem Wort: Münchens schmucker Bummel-Boulevard beginnt — neben dem Oktoberfest —; Münchens Aushängeschild zu werden.

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Natürlich regen sich gleichzeitig auch Münchens Grantier und Kritikaster, um ein reines Fußgängerglück durch Gehässigkeiten zu vermiesen. Die außerordentlich frei-giebig angeordneten Beleuchtungskörper werden „aufgesetzte Wärmeflaschen“ oder „Nachthaferln“ genannt, und der neuerbaute Kaufhof am Marienplatz ging als „Betonklotz“ in Münchens Stadtchronik ein. Daneben werden noch Konsum

und Kommerz aufs Korn genommen — denn daß der Fußgängerbereich eine reine Geschäftssache ist, wird vor allem von Münchens Linken vermerkt. Weshalb auch ein umfangreiches Kulturprogramm mit Kellertheatern, Konzerten, Ausstellungen, Filmstudios und Zeitungscafes ausgearbeitet wurde. Bis jetzt allerdings ist von einer Realisierung solch kühner Vorhaben noch wenig zu bemerken. Im Gegenteil: das

Cafe Frech in der Schreyerpassage, eines der wenigen gemütlichen Cafes in der Fußgängerzone, soll einer Bank zum Opfer fallen. Die 83 Verkaufsvitrinen allerdings, die sich weit in den Fußgängerbereich hineinschoben, wurden nach handfesten Protesten der Bevölkerung auf ein Minimum reduziert. Auch die plötzlich wie die Schwammerln aus dem Boden schießenden Neuheitenverkäufer mußten — von wenigen Ausnahmen abgesehen — ihre Patent-Kartoffelschäler und Minihaarschneidegeräte woanders anbieten. Selbst Souvenirverkäufer und Schnapsbuden mit der Aufschrift „Selbstgebranntes“ wurden nur in Ausnahmefällen zugelassen. Weshalb jetzt offiziell nur noch 5 Obst-standin, 4 Blumenstandin, 5 Maronibratereien und 6 Neuheitenkioske Münchens Fußgängerreich verschandeln dürfen.

Also konnte sich Münchens „Gute Stube“ im Frühling dieses Jahres so richtig reingefegt präsentieren: mit den weißlackierten, zur freien Benutzung aufgestellten Stühlen, den

geschmackvollen Blumenarrangements, den frisch renovierten Auslagen, dem Glamourlook modischer Extravaganz. Inzwischen allerdings hat sich die Situation etwas eingependelt, und nach dem Motto, daß bekanntlich nichts so heiß in den Mund wie auf den Teller kommt, ist es doch so manchem Hippiepärchen gelungen, seinen Schmuck, seine selbstgemachten Gürtel oder bedruckten Tücher anzubieten. Jünger der Krishna-Sekte, eingewickelt in weiße Leintücher und geziert mit einsamem Zöpfchen auf ansonsten kahlgeschorenem Schädel, verkünden ihre Erlösungstheorien, Jesus-People sprechen über Themen wie: „Zerstört Sünde die Persönlichkeit?“ Oder: „Satan kämpft um unsere Welt“, das „Messias-Ensemble“ musiziert zusammen mit dem „Posaunenchor München Ost“, und ein Tramp zupft in einer Toreinfahrt seine Gitarre.

Damit das bodenständige Element jedoch nicht völlig in Exzentrik und Exotik untergehe, preisen musisch veranlagte Standlverkäufer ihr Obst

und ihr Gemüse mit eigenen Gedichten an: „Leit, eßt's im Winter mehr Frischgemüse, dann gibt's auch keine kalten Füße“ oder: „Ein Vitaminstoß ohne Arzt und Spritze, kommt's her, i mach doch keine Witze“. Auch die Stadt trägt einiges dazu bei, den Fußgängerbereich entsprechend

attraktiv zu machen: da gibt es Kinderfeste im Sommer und Faschingsgaudi im Winter. Und vor den letzten Wahlen glich die Fußgängerzone bereits endgültig dem Londoner Hyde Park: auf erhöhten Podesten betätigten sich Amateurpolitiker als Wahlredner, wobei deftige Ausdrücke je nach Temperament und Herkunft die Reden entsprechend würzten.

Noch ist Münchens Fußgängerbereich ohne Tradition und Geschichte, er ist fast noch jungfräulich und wartet mit Spannung der Dinge, die da kommen sollen. Aber Ansätze, Versuche, und Realisationen lassen ahnen, welche Möglichkeiten sich hier bieten, um die Stadt ihrer eigentlichen, unter dem mörderischen Druck von Technik, Zivilisation und Bevölkerungsexplosion jedoch fast schon vergessene Bestimmung zurückzuführen: nämlich ein Ort der Begegnung, des Gedanken- und Ideenaustausches, der gegenseitigen Befruchtung und der Inspiration zu sein.

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