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Harte Männer mit Vaterkomplex

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Immer wieder lenken sportliche Höchstleistungen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich. Angesichts der Lebensgefahr, in die sich diese Männer und Frauen nicht selten begeben, nur um etwas zu erreichen, das vor ihnen noch niemandem geglückt ist, ergibt sich die Frage, was sie zu ihrem gefährlichen Tun treibt. Der Südtiroler Psychologe Jakob Stauder ist in seiner Dissertation an der Universität Salzburg dieser Frage nachgegangen und dabei zu dem Ergebnis gelangt, daß Menschen, die sich bewußt Extremsituationen aussetzen, auffallende Ähnlichkeiten in ihrer Persönlichkeit und Entwicklung aufweisen.

Stauder hat 24 Extrembergsteiger mit Methoden der Psychologie befragt und analysiert Extrembergsteiger sind Alpinisten, die Touren der höchsten Schwierigkeitsgrade V und VI bewältigen. Der Extrembergsteiger sucht mit Vorhebe Routen aus, die sehr gefährlich und schwierig sind. Bei Schwierigkeitsgrad V beginnt das „extreme Klettern“, wobei zwar eine Seilsicherung, jedoch nicht die technischen Hilfsmittel des Bohrhakens und der Strickleiter verwendet werden. Dies setzt vollendete Körperbeherrschung, Erfahrung, Kraft und Ausdauer voraus.

Die zahlreichen Bergunfälle, mit denen bei diesen Schwierigkeitsgraden zu rechnen ist, schrecken den Extrembergsteiger nicht von den Touren ab, sondern die Gefahren bilden erst den richtigen Anreiz. Mit dem Wegfall des Risikos wäre das Bergsteigen nicht mehr das, was der Extrembergsteiger sucht.

Aus Stauders Untersuchungen ergab sich, daß alle 24 Versuchspersonen unter einem schwerwiegenden Vater-Problem litten. In den meisten Fällen erschien der Vater als harte, unerbittliche Autorität Aber auch jener Vater, der als Schwächling und Versager empfunden wurde, der als zu leicht und unbekümmert galt oder gar nicht in Erscheinung trat, weil er häufig abwesend oder gar gestorben war, verursachte in dem heranwachsenden Buben einen „Vaterkomplex“.

In keinem dieser Fälle wird der Vater der gewünschten Rolle als Leitbild für die Identitätsfindung des Sohnes gerecht. Er ist nicht die als gerecht empfundene autoritäre Instanz und zugleich der Spielkamerad, den sich diese Sportler als Heranwachsende gewünscht hätten.

Dagegen äußerten sich alle Testpersonen mit nur einer Ausnahme über ihre Mutter liebevoll und lobend, selbst dann, wenn sie unmütterliche, herrschsüchtige und autoritäre Züge zeigte. Die Familienatmosphäre wurde in den meisten Fällen als kühl empfunden.

Fast alle, die sich später tollkühn den gefährlichsten Situationen aussetzen, waren in ihrer Kindheit keineswegs jene Draufgänger, als die sie später in Erscheinung traten. Sie hatten als Kinder unter Schüchternheit gelitten, waren still und ruhig gewesen. In der Zeit zwischen dem 16. und 22. Lebensjahr waren sie von einer tiefgreifenden Orientierungslosigkeit geprägt. Sie litten unter Haltlosigkeit, Unsicherheit, Ängstlichkeit, Depressionen, Isolations- und Minderwertigkeitsgefühlen. Keineswegs waren sie schon damals die „harten Burschen“, die jeder Unbill trotzen.

Als Folge dieser Reifezeit zeigten sich starke aggresive Tendenzen bei allen untersuchten Personen, die sich in Form von Süchtigkeit, sexueller Hemmungslosigkeit, in einigen Fällen auch in einem Hang zur Kriminalität, als Masochismus, Lügenhaftigkeit und Faulheit äußerten. Die starke Mutterbindung hielt sie aber davon ab, ihre zum Teil bis ins Abnorme gehenden Aggressionen auszuleben und abzureagieren.

In dieser Verstrickung in Zwie-' spalte wird die innige Liebe zur Natur zum Ausdruck für die Sehnsucht nach Ordnung der psychischen Kräfte im Gegensatz zu dem Chaos, das in dem jungen Menschen herrscht

Die ersten Bergwanderungen hinterließen in den späteren Extrembergsteigern unauslöschliche Eindrücke. „Ich habe mich fast hinaufgeweint vor Sehnsucht“, drückt sich einer aus. Die Entwicklung zum Extrembergsteiger erfolgte dann bei allen Probanden aus eigenem Antrieb. Sie mußten immer wieder probieren, ob sie zu noch einer Steigerung ihrer Leistung, ihres Mutes und ihrer Ausdauer fähig wären. Dabei erfährt der Extrembergsteiger die Gefahr als willkommenen Austragungsort für die seinem Gewissen unangenehme Aggressionen.

Für alle extremen Gipfelstürmer, die Stauder befragte, bedeutete das Extrembergsteigen die Erfahrung einer erstmals freiwilligen und selbständigen Leistung nach einer langen und qualvollen Periode der Lethargie und Resignation.

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