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Kranke Gesundheitspolitik

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Daß unsere Gesundheitspolitik nicht „gesund“ ist, wissen wir nicht erst seit heute. Um aber dem Patienten zu helfen, wurde bislang wenig unternommen. Es fehlt nicht nur an der Therapie, es mangelt schon an der Diagnose. Überall im medizinischen Bereich versucht man, den Kurpfuschern das Handwerk zu legen, in der Gesundheitspolitik selbst aber ist momentanes Verpfla-stern der aufgebrochenen Wunden Trumpf.

Der Entschluß, bei der letzten Regierungsbildung im November 1971 auch eine Gesundheitsministerin zu küren, wurde allgemein — auch von der Opposition — begrüßt. Der überschwengliche bis wohlwollende Antrittsapplaus für Dr. Ingrid Leodolter ist inzwischen verhallt. Die Frau Primaria aus Wien, die als Ärztin überall anerkannt wird, hat als Politmedizinerin jetzt harte und härteste Kritik zu tragen. Beispielsweise meint ihr Ärztekollege und VP-Oppositionsgegenstück Primarius Wiesinger, daß „eine gute Ärztin noch lange keine gute Ministerin“ sein muß. Und Oppositionsführer Dr. Schleinzer forderte — wohl verpackt — letzthin sogar Leodolters Rücktritt.

Jüngster Anlaß für diese Angriffe war die Tatsache, daß das von Leodolter für Ende März angekündigte gesundheitspolitische Konzept der Regierung Kreisky trotz einmonatiger Verspätung noch immer nicht vorliegt. Dafür ist inzwischen die Bevölkerung aufgerufen worden, Vorschläge zu liefern. „Wohin“, fragt Wiesinger, „ist denn das Humanprogramm der SPÖ mitsamt den 1400 Experten verschwunden?“ Auf derartige Fragen aber gibt es von Frau Leodolter keine Antwort. Und gerade darin soll ihr Hauptfehler liegen.

Dr. Kreisky beispielsweise hätte wahrscheinlich sofort eine Antwort parat. Leodolter hält sich aber in diesem Fall mehr an ihren Regierungskollegen Lütgendorf — was bereits zur Wortkreation „Lütgendol-ter“ geführt hat — und antwortet bisweilen ungeschickt („Das kann ich Ihnen nicht sagen“) — oder gar nicht. Anderseits hat sie zu Ostern — als auch für Österreich Pockengefahr bestand — ihren Urlaub in der Schweiz abgebrochen, um den mehr oder weniger verblüfften Fernsehern mitzuteilen, daß sie ihren Urlaub deshalb abgebrochen hat, weil ihre Anwesenheit in Österreich die Bevölkerung „beruhigt“.

Es fehlt bisher an konkreten Maßnahmen, etwa im Spitalswesen, ebenso im Bereich des Krankenversicherungswesens, der Vorsorgemedizin und des Umweltschutzes.

Keine Kompetenzen

Die Fülle der unbewältigten Probleme nimmt aber mit jedem Tag zu. Erst jetzt wurden die alarmierenden Sterbe- und Geburtenzahlen des vergangenen Jahres bekannt: 125.723 Österreicher starben. Das ist die höchste Sterberate seit 1945, die aber nicht sosehr auf den altersbedingten Tod zurückzuführen ist, als vielmehr auf den Umstand, daß Herztod, Krebs und Krankheiten der Atmungsorgane ungeheuer zugenommen haben. Falsche Ernährung, ständiger Streß, falsche Erholung und verschmutzte Luft haben ihren Niederschlag in der Statistik gefunden. Gleichzeitig geht die Geburtenrate zurück — sie hat ihren niedrigsten Stand seit dem Kriegsende erreicht: Dafür ist ein Ansteigen der Säuglingssterblichkeit bemerkbar.

Unter diesen Umständen kann auch die Anwesenheit der Frau Gesundheitsminister und die Vertröstung auf eventuelle Konzepte nicht beruhigen. Allerdings wäre es verfehlt, wenn man — obwohl in Österreich üblich — nur nach einem Sündenbock suchen sollte. Schuld an der Misere in der Gesundheitspolitik ist vor allem in der unzureichenden Ausstattung des Leodolter-Ministe-riums mit Kompetenzen zu suchen. Wie kann man auch eine Ministerin zur Verantwortung ziehen, die keine klar umrissenen Aufgaben hat?

Schuld an der Anti-Leodolter-Stimmung und der Munitionierung der Opposition ist aber auch die Regierung selbst, die für die unbefristete Verlängerung der Alkoholsondersteuer, die Erhöhung der Tabakpreise und die geplante Erhöhung der Krankenkassenbeitragssätze die Gesundheitspolitik strapaziert hat, ohne anderseits Gegenleistungen anzubieten.

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