Der Schock über den Ausgang der französischen Wahlen ist berechtigt; dass Le Pen wahrscheinlich nicht Staatspräsident wird, tröstet nur wenig. Die Erklärungen, die uns für das Wahlverhalten geliefert werden, erinnern an Österreich im Oktober 1999. Ich halte sie damals wie heute für verharmlosend und für die falsche Botschaft an die Verantwortlichen: die WählerInnen.
Protest, lautet die exkulpierende Formel. Schuld sei mangelnde Lösungskompetenz der Regierenden in Frankreich, die Kohabitation, die einerseits abnehmende Unterscheidbarkeit, anderseits unsachgerechte Machtaufteilung bewirkt habe. In Österreich habe die große Koalition ähnliche Effekte gehabt. Das politische Establishment ist also selbst schuld, wenn die WählerInnen einen Ausweg suchen: die "Wende".
Das allerdings ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze ist, dass es einzig und allein in der Verantwortung der BürgerInnen liegt, welche Wende sie ermöglichen oder zulassen. Ich habe 1999 das Schönreden der österreichischen Wahlmotivation durch alle im Parlament vertretenen Parteien für eine Teilentmündigung gehalten. Denn alle Menschen der nahezu 27 Prozent FPÖ-WählerInnen mussten spätestens aufgrund des Wahlkampfes zumindest um die Fremdenfeindlichkeit dieser Partei wissen. Sie haben sie in Kauf genommen und tragen somit die Verantwortung. Alle Menschen der etwa 17 Prozent Le-Pen-WählerInnen müssen zumindest um den Rassismus ihres Kandidaten wissen. Sie nehmen ihn in Kauf und tragen somit die Verantwortung.
Was ist los mit unserer Gesellschaft? Liegt es daran, dass die Tragweite von Verantwortung nicht begriffen wird, weil man Verantwortung im eigenen Leben zu wenig erfährt? Unterscheidet sich das ungarische Wahlergebnis deshalb so sehr, weil hier die oktroyierte Absenz von Eigenverantwortung noch so in den Knochen sitzt, dass mit dem Gewinn derselben behutsamer umgegangen wird? Solange wir uns nicht alle für unser Gemeinwesen verantwortlich fühlen und daher auch die Folgen (politischen) Handelns mit bedenken, solange werden PopulistInnen leichtes Spiel haben. Wir erleben erst den Anfang.
Heide Schmidt ist Vorsitzende des "Instituts für eine offene Gesellschaft".
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