Österreich bleibt also bei CERN. Gut so.

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Die bisherigen und die bevorstehenden Forschungen am CERN reichen über die Physik hinaus. Das ist nur einer der Gründe, warum Österreich Partner am Forschungszentrum bleiben sollte.

Gut so, dass die ministeriell kundgetane Absicht, die Mitgliedschaft Österreichs beim Europäischen Kernforschungszentrum CERN zu kündigen, fallen gelassen wurde. Somit ist die Mitwirkung der österreichischen Wissenschaft an den Forschungen des CERN, die mit gewaltigem Einsatz, vor allem mit Hilfe mächtiger Teilchenbeschleuniger und -detektoren den Aufbau der Materie aus ihren "elementarsten", kraftvoll verknüpften Teilen ergründen, gerettet - wenigstens für die nähere Zukunft.

Bei der Entscheidung über die weitere Mitwirkung Österreichs am CERN war zu bedenken, was der CERN für Europa und speziell für Österreich im europäischen Kontext bedeutet hat und weiterhin bedeutet. Die Errichtung des Forschungszentrums bei Genf - kaum ein Jahrzehnt nach Ende des Zweiten Weltkriegs - und seine Entwicklung, an der unser Land seit 50 Jahren beteiligt ist, haben sich als eine Erfolgsstory erwiesen; sie setzte ein weit über die Forschung hinaus sichtbares und ermutigendes Zeichen: Europäische Länder, die einander in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in furchtbaren Auseinandersetzungen kriegerisch begegnet waren, zeigten sich imstande und bereit, miteinander zu kooperieren, friedlich, konstruktiv, zielstrebig und effektiv. Wie die ambitionierten Forschungen des CERN schon vor Beginn der EU-Programme gezeigt haben, können europäische Kooperationspartner große Herausforderungen, die zu bewältigen die einzelnen Länder - vor allem die kleineren unter ihnen - überfordert, gemeinsam annehmen, und als Ergebnis vereinter Anstrengung Spitzenleistungen erzielen.

Erkenntnisse auch für Nicht-Physiker

Die Forschungen am CERN sind fundamentaler Art. Sie gelten der methodischen, experimentellen und theoretischen Erschließung der elementaren Partikel, die den Bau und Zusammenhalt der materiellen Welt zu erklären versprechen, und die nicht nur hier und heute wirken, sondern die raumzeitliche Entwicklungsgeschichte des Kosmos besser verstehen lassen. Die Forschungen am CERN haben - in Verbindung mit nationalen wissenschaftlichen Instituten - zahlreiche neuer Elementarteilchen entdeckt und charakterisiert; sie haben wesentlich zur Begründung einer als "Standardmodell" firmierenden Theorie beigetragen, welche die Eigenschaften und Wechselwirkungen der bekannten und der neu erschlossenen Elementarpartikel mit mathematischer Raffinesse systematisiert und vorauszusagen erlaubt. Ließen sich - schon vor eineinhalb Jahrhunderten - die atomaren Materiebestandteile in ein "Periodisches System" der Elemente bringen, das bis heute zum Fundament chemischen Verständnisses - und Schulunterrichts - gehört, so ist das von der zeitgenössischen Physik erstellte System der elementaren Teilchen der materiellen Welt ebenfalls eine große historische Leistung, die keineswegs bloß "binnenwissenschaftliches" Interesse beansprucht, sondern die Weltsicht auch der Nichtphysiker zu bereichern vermag - wenn sie wissen wollen, "was die Welt zusammenhält".

Die Suche nach elementaren Teilchen

Das Standardmodell der Teilchenphysik hat einen hohen Erkenntniswert; zu seiner Bestätigung und Komplettierung bedarf es jedoch noch des experimentellen Nachweises eines grundlegenden wichtigen Elementarteilchens, des "Higgs-Bosons". Mit Hilfe des am CERN errichteten, weltweit leistungsstärksten Teilchenbeschleunigers, des LHC (Large Hadron Collider), sollte es möglich sein, seiner "habhaft" zu werden. Der LHC wird es erlauben, Kerne von Wasserstoffatomen und andere winzige "Geschosse" mit hoher Energie frontal aufeinanderprallen und dabei neue Elementarteilchen hervorgehen zu lassen. Das nach Higgs benannte ist aber nicht das einzige Partikel, dessen Entdeckung zu erhoffen ist. Weitsichtige Physiker erwarten, dass im LHC auch Teilchen entstehen können, die über das Standardmodell hinausweisen. Werden sich etwa "supersymmetrische" Teilchen, wird sich etwa auch ein "WIMP-Teilchen", das manche Forscher für die "Dunkle Materie" des Kosmos verantwortlich machen, detektieren lassen? Wird uns die Erkundung neuer Teilchen und ihrer Beziehung zueinander dem schon von Einstein und Heisenberg erträumten Ziel einer Vereinheitlichung aller Naturkräfte näherbringen, einer Rückführung auf eine einzige Urkraft, wie sie vor 14 Milliarden Jahren unmittelbar nach dem als Big Bang bezeichneten explosiven kosmischen Ereignis existiert haben könnte, bevor aus ihr die Mehrzahl der physikalischen Kräfte hervorging? Das sind faszinierende Denkansätze und Forschungsziele - faszinierend auch dann, wenn durch sie die philosophische und theologische Frage nach dem Existenzgrund der Welt und des Denkens noch gar nicht gestellt ist.

Der Gewinn, den CERN mit seinen kooperativen Forschungen erbringt, beschränkt sich aber nicht auf die Gewinnung fundamentaler Erkenntnisse. Er schließt - und das ist hinsichtlich der hohen finanziellen Aufwendungen für CERN relevant - methodische und technologische Errungenschaften ein, die über die Teilchenphysik hinaus einsetzbar und verwertbar sind. So lässt sich darauf hinweisen, dass die Weiterentwicklung von Teilchenstrahlenquellen, von supraleitenden Magneten und von Strahlendetektoren nicht nur für die Hochenergiephysik, sondern - unter anderem - auch für die diagnostische und kurative Medizin relevant sind. Ein weiteres Beispiel bietet die raffinierte Informationstechnologie, auf welche die kooperative Auswertung der hochenergiephysikalischen Experimente angewiesen ist. Es ist bemerkenswert, dass am CERN, von dem ja schon vor Jahren das World-Wide-Web seinen Ausgang genommen hat, eine neue Generation des Internet, das "Grid", entwickelt worden ist, das die Aufgabe hat, mit der immensen Flut von Daten fertig zu werden, die bei der Auswertung der geplanten CERN-Experimente anfallen werden. Diese Netzwerktechnologie eignet sich aber keineswegs bloß für die Bewältigung elementarphysikalischer Daten; sie wird in Bereichen, in denen riesige Datenströme zu vernetzen sind, dringend benötigt - und sich sogar bezahlt machen.

Offene Debatte über die Beurteilung

Es ist also unbestritten, dass der wissenschaftliche Output des CERN und der mit ihm vernetzten Wissenschafter in Europa während der letzten Dezennien sehr signifikant und ergiebig war - und es zu bleiben verspricht; unbestritten ist, dass österreichische Wissenschafter die hervorragenden Forschungsmöglichkeiten, die die CERN-Mitgliedschaft eröffnet hat, gut zu nutzen verstanden haben; ihr Anteil an den Erfolgen des CERN war und ist dazu angetan, das Ansehen unserer Wissenschaft im eigenen Land und jenseits der Grenzen zu festigen. Freilich muss Österreich - ebenso wie die übrigen Mitgliedstaaten - dafür relativ hohe finanzielle Beiträge leisten, die in Zeiten budgetärer Engpässe besonders zu Buche schlagen. Darum ist es legitim, dass der staatliche Financier der Forschung sorgsam prüft, wie es um das Verhältnis zwischen den Aufwendungen und den erzielten und zu erzielenden Ergebnissen steht. Eine Bilanzierung vorzunehmen, ist erforderlich, wenn auch nicht leicht, gilt es doch, nicht nur materielle, sondern auch immaterielle Größen zu berücksichtigen, zu bewerten, miteinander in Beziehung zu setzen und gegeneinander abzuwägen. Es wäre verfehlt, ein solches Kalkül nur für eine Institution oder einen Wissenschaftsbereich allein anzustellen, und daraus, ohne Vergleich mit anderen, weitreichende Entscheidungen abzuleiten. Über die Kriterien der Bewertung wäre ein offener Diskurs unter Einschluss der Betroffenen zu führen. Und wenn es um wichtige Kooperationen geht, wären rechtzeitige Verhandlungen mit den Kooperationspartnern erforderlich.

Alles das ist im Hinblick auf die Hochenergiephysik und die Beteiligung Österreichs am CERN nicht geschehen. Darum also ist es so richtig, dass ein Ausstieg Österreichs aus dem CERN, wie er kurzfristig erwogen wurde, rasch wieder abgeblasen worden ist. Ein Ausstieg aus dem von 20 europäischen Ländern getragenen, langfristigen Forschungsunternehmen hätte - kurzerhand verfügt, ohne sorgfältige Abwägung und überzeugende Begründung, ohne Mitbefassung der Partner und Betroffenen - nicht nur zu einer Auszehrung der auf die Zusammenarbeit im CERN angewiesenen kernphysikalischen Forschung geführt. Seine Folge wäre, im In- und im Ausland, ein nur kaum reparabler Vertrauens- und Prestigeverlust gewesen. Dazu ist es nun nicht gekommen.

* Der Autor, Biochemiker, war Universitäts-Professor und Wissenschaftsminister

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