Die Hochkultur dankt ab

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Der traditionelle Kulturbegriff löst sich auf. An die Stelle von Oper, Theater und Literatur treten Popmusik, Film und Werbung als kulturprägende Phänomene.

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Der traditionelle Kulturbegriff löst sich auf. An die Stelle von Oper, Theater und Literatur treten Popmusik, Film und Werbung als kulturprägende Phänomene.

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Es war eine exklusive Gesellschaft, die in die Westminster Abbey geladen war: Der britische Hochadel, die High Society des Königreiches, aber auch Größen des internationalen Showgeschäftes nahmen an den Begräbnisfeierlichkeiten der 1997 bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Lady Diana teil. Der Höhepunkt des feierlichen Gottesdienstes in der altehrwürdigen Londoner Kathedrale war ein Auftritt des englischen Pop-Sängers Elton John. Zu Ehren der verstorbenen Prinzessin, die eine gute Freundin des Stars gewesen war, intonierte John die von ihm komponierte Ballade "Candle in the Wind".

"Jahre früher hätte die Rockmusik bei einem so feierlichen Anlaß Hausverbot gehabt", konstatiert der Wiener Komponist Gottfried Kinsky-Weinfurter. In der Tat: Bei einem gesellschaftlichen Ereignis dieses Ranges wäre selbstverständlich aus-schließlich klassische Musik am Programm gestanden. Doch die Zeiten haben sich geändert: "In der aktuellen Musikkultur hat Klassik ausgedient", behauptet Kinsky-Weinfurter in seinem viel diskutierten Buch "Sturz der Denkmäler". Doch nicht nur die Klassik, sondern auch Theater und Literatur haben nicht mehr jenen uneingeschränkten Stellenwert, den sie einst innehatten. Und nach Jahrzehnten chronischen öffentlichen Desinteresses geraten die ohne staatliche Subventionen kaum lebensfähigen Bereiche der zeitgenössischen bildenden Kunst und der E-Musik unter Legitimationszwang.

Die Ära der Hochkultur neigt sich ihrem Ende zu, lautet die These Kinsky-Weinfurters. "Klassische Oper, Theater oder Werke der Literatur sind nicht mehr Teil eines genau bestimmbaren Kanons der ,Allgemeinbildung'", analysiert er in seinem "Schwarzbuch der Kulturpolitik". Auch "der staatlich institutionalisierte und verwaltete Kunstraum ist schlicht belanglos geworden", kritisiert Kinsky-Weinfurter die vom Staat subventionierte zeitgenössische Kunst. An die Stelle der Hochkultur als gesellschaftsprägende Kultur tritt die Populärkultur, also Phänomene wie Pop, Film, Werbung oder Mode.

Kinsky-Weinfurters Buch hat viel Staub aufgewirbelt, doch ein einsamer Rufer ist er keineswegs. "Künstlerische und intellektuelle Energien, die früher exklusiv für Hochkultur mobilisiert wurden, sind heute Träger einer funktionalisierten Ästhetisierung des Alltages. Kultur findet nicht nur im Museum statt, sondern auch auf Plakatwänden, im Design, in der Architektur, in der Freizeitwirtschaft und im Film. Es scheint mir notwendig, die heillose Identifikation von Kunst und Kultur aufzugeben", erklärte beispielsweise Franz Morak, Kultursprecher der ÖVP, bei der von ihm kürzlich organisierten Tagung "Die organisierte Kreativität". Der Titel der abschließenden Podiumsdiskussion lautete "Das Ende des traditionellen Kulturbegriffs?". Der Wiener Kommunikations- und Kulturwissenschaftler Eugen Semrau, einer der Teilnehmer, meinte dazu nur: "Das Fragezeichen hätte man ruhig weglassen können." Niemand widersprach ihm.

Daß sich der traditionelle Kulturbegriff zunehmend auflöst, zeichnet sich schon seit längerem ab: "Anfang der siebziger Jahre konnte man noch am Grundbegriff des kultivierten Menschen festhalten, der an der Gesamtkultur, sei es nun Theater, Musik, klassisch oder modern, seien es Ausstellungen oder Museen und Bücher, gleichermaßen teilnimmt. Das hat sich geändert", hat Ernst Gehmacher, Leiter des österreichischen Meinungsforschungsinstituts IFES, vor schon fast zwei Jahrzehnten herausgefunden. "Die Analyse zeigt mit überwältigender Deutlichkeit, daß kulturelle Veranstaltungen und kulturelle Aktivitäten im Sinne der herrschenden Kunstauffassung das Privileg einer verhältnismäßig kleinen Bildungselite sind und nur über die Massenmedien Rundfunk, Film und Schallplatte breitere Schichten erreicht werden", formulierte Gehmacher 1981 in einer IFES-Studie.

Natürlich gibt es noch immer so manchen, der von der Überlegenheit der Hochkultur überzeugt ist und für Populärkultur nichts übrig hat. Der Kulturjournalist Franz Endler (Kurier) ist einer von ihnen. Für ihn brach 1997 eine Welt zusammen, weil Bundeskanzler Viktor Klima statt der "Wiener Festwochen"-Premiere von Schuberts Oper "Alfonso und Estrella" den Life-Ball besuchte und auch der ORF, was die Ausführlichkeit der Berichterstattung angeht, die gleiche Wahl traf. Ein anderer unermüdlicher Fürsprecher der Hochkultur war Wolfgang Kraus, nicht zuletzt in seinen Furche-Kolumnen. Für ihn waren selbst sich aus dem Fundus der Hochkultur speisende Events vulgär, "Krach und Populismus", "Zeichen des Verfalls". Kraus starb im September des Vorjahres.

Haßerfüllt reagierte Karl-Markus Gauß, Deppenjäger der Nation, in dem Magazin "Format" auf Gottfried Kinsky-Weinfurters Buch. Jenen Song, den Elton John in der Westminster Abbey sang und den Kinsky-Weinfurter als Indiz für die Abdankung der Hochkultur ansah, ist für Gauß "reinster musikalischer Analphabetismus, ein flagranter Fall von akustischer Idiotie", schlicht: "Müll". Diese verächtliche Diktion zeigt klar, was der Salzburger Publizist von Popmusik und von Populärkultur im allgemeinen hält: "Kulturelle Verblödung der Massen", Herrschaft der "Kulturindustrie", Triumph des Deppentums.

Der Umgang mit Populärkultur sei in Europa "neurotisch" und "konfliktbeladen", meint Kinsky-Weinfurter. Was gefällt, kann keine Qualität haben, lautet das Motto vieler Künstler, Kulturtheoretiker und -publizisten. Ausführlich belegt Kinsky-Weinfurter dies in bezug auf Musik: Für die meisten sogenannten Musikexperten ist Popmusik vergänglich, verkaufsorientiert und vor allem "fremdbesimmt" (eines der Lieblingsvokabeln, wenn Intellektuelle "im Krieg Populärkultur gegen Hochkultur den Hammer der Ästhetik schwingen", wie der Wiener Philosoph Alfred Pfabigan schmunzelt). An Universitäten und Hochschulen findet kein Diskurs über populäre Musik statt, Musikhistoriker ignorieren das weite Feld all dessen, was sie nicht als E-Musik einstufen. In dem 1.000 Seiten starken Standardwerk "Musikgeschichte in Daten" von Gerhard Dietel, das von sich behauptet, "alle relevanten Werke der abendländischen Musikgeschichte" zu berücksichtigen, findet sich keine Zeile über Elvis Presley, die Beatles oder Punk. "Ganz gegen ihre Maximen hat die Wissenschaft in diesem Punkt bisher vorwiegend Glaubenssätze, Verurteilungen und Abwertungen in Umlauf gebracht", ätzt Kinsky-Weinfurter.

Was sich kaum jemand getraut zu sagen, weil er die Ächtung des Kunstbetriebes fürchten muß, Kinsky-Weinfurter spricht es aus: "Was der Staat an musikalischem Ernst fördert, bildet lediglich eine virtuelle Musikkultur, die mittels akademischer Publizistik in Bewegung gehalten wird. Die darin hochgehaltene Relevanz von musikalischen Werken ist ein reines Phantasieprodukt ihrer Autoren, deren musikalische Werkbesprechungen reihum gehen in subventionierten Publikationen ohne den geringsten Marktbezug, ohne Publikum und ohne Feedback."

Dabei ist die Arroganz des "akademischen Apparats" faktisch nicht zu rechtfertigen: Errungenschaften der musikalischen Avantgarde, wie etwa Klangflächen, Dissonanzen oder Geräuschmalerei haben längst Einzug in Filmmusik und Techno gefunden. Doch die Trennung in zwei Sphären werde aufrechterhalten, kritisiert Kinsky-Weinfurter - "eine Sphäre der Kunstmusik, die allein würdig ist, musikwissenschaftlich wahrgenommen zu werden, und jene der Unterhaltungsmusik, die nur das Konsumbedürfnis befriedigt".

Was für die Musik gilt, gilt auch für alle anderen Bereiche: "Kultur wird als eine reine, hehre Sphäre gedacht, die von der schmutzigen des Gelderwerbs deutlich getrennt ist", schlägt Franz Morak in dieselbe Kerbe. Der ÖVP-Kultursprecher fordert daher ein radikales Umdenken in der österreichischen Kulturpolitik. "Im Feld der Alltagskultur hat es Veränderungen gegeben, denen das traditionelle Paradigma der österreichischen Kulturpolitik - Sammeln, Bewahren und Erschließen - nicht gerecht wird", erklärt der Schauspieler, der auf die politische Bühne überwechselte. Kreative Bereiche wie Werbung, Videoclips oder die neuen, künstlichen Freizeitwelten seien mit den herkömmlichen Instrumenten der Kulturpolitik nicht erfaßbar.

Heißt das, in Zukunft sollten Schlagerfestivals oder McDonalds finanziell gefördert werden, wie Karl-Markus Gauß unterstellt? Nein, denn eine zeitgemäße Kulturpolitik kann nicht nur aus der Vergabe von Subventionen bestehen. "Die Werbung gestaltet das Leben der Menschen in einem hohen Ausmaß. Darauf hat die Kulturpolitik nicht den geringsten Einfluß", stellt Eugen Semrau fest. Doch solange Werbemacher als "Büttel der Industrie" angesehen werden und nicht als Kulturschaffende, die nahe am Nerv der Gesellschaft sind, wird ein möglicherweise Früchte tragender Dialog zwischen Politik und Werbung ausbleiben. Auch das Internet, ein virtueller Raum, in den auch gewaltige schöpferische Energien fließen, ist auf den Landkarten der österreichischen Kulturpolitik ein großer weißer Fleck.

Doch in solchen Gefilden liegen Gegenwart und Zukunft des Kulturschaffens, lautet Gottfried Kinsky-Weinfurters Schlußfolgerung: "Kunst und Kultur werden auf jenem Feld geprägt, das eine Sprache hat, einem Kanon folgt und vom Publikum auch verstanden wird. Dieses Feld ist jener unbegrenzte Raum der Massenkultur, der die prunkvollen Paläste der bürgerlichen Kultur, die großen Denkmäler von einst, heute alt aussehen läßt."

Bleibt nur die Frage, was mit dem kulturellen Erbe geschehen soll. Auslöschen will es ja niemand, obwohl der traditionelle Kulturbegriff offenbar am Ende ist. "Sicherlich hat die dem Markt gegenüber sperrige Avantgarde einen Anspruch auf Förderung; sicherlich sollen die traditionellen Werke unserer Hochkultur potentiell allen Österreichern zugänglich sein", bekennt Franz Morak. "Klassisches Theater, Oper und Konzert sind wohl wie Museen zu fördern", meint auch Kinsky-Weinfurter.

Doch wie geht die Gesellschaft in Zukunft mit dem Erbe der Hochkultur um? "Wird sie sich irgendwann dafür entscheiden, daß man diese Künste pflegen und erhalten sollte, so wie man ja auch einen mittelalterlichen Dom nicht abreißt, bloß weil ein Kaufhaus größere Rendite verspricht - und wird sie dann in den denkmalgeschützten Bühnenkünsten auch das radikal Unzeitgemäße zu schätzen wissen?", fragte der Kulturpublizist Claudius Seidl vor zwei Jahren in der "Süddeutschen Zeitung".

Diese Frage ist weiterhin offen, die Antwort könnte ja - aber auch nein lauten. Seidl: "Dann allerdings könnte es Oper, Theater und Ballett so ergehen, wie einst dem Minnesang und dem Schäferspiel. Auch in den Künsten dauert die Ewigkeit selten länger als ein paar Jahrhunderte."

Sturz der Denkmäler. Staat und Hochkultur - ein Schwarzbuch der Kulturpolitik.

Von Gottfried Kinsky-Weinfurter Libro, Wien 1998 168 Seiten, öS 99,90 (nur bei "Libro" erhältlich)

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