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Nur Negatives ist wirksam

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Die Wahrheit zu sagen, gehört zu einer ethischen Haltung, und diese Haltung hat mit Kultur zu tun. Mit dieser Wahrheit und dieser Kultur steht es schlecht, und zwar gerade dort, wo es eine wahre Sintflut von Information gibt: Wir ersticken an Informationen und haben doch so wenig Wahrheit.

Dazu ein deutliches Beispiel yon erheblicher Tragweite: In der deutschen Tageszeitung „Die Welt” stand kürzlich an unauffälliger Stelle (auf Seite 13) die Mitteilung, daß Rußland seit Jahrzehnten zum ersten Mal nicht mehr Getreide importiere, sondern exportiere. Nach der ruinösen Epoche des Kommunismus tritt Rußland zum ersten Mal nicht mehr als Käufer, sondern als Anbieter auf. Etwa zwei Millionen Tonnen werden an einst nichtkommunistische Drittländer und drei bis vier Millionen Tonnen an „benachbarte Republiken” verkauft. Eine wirkliche Sensation. Und dies umsomehr, als das heutige Rußland nur mehr 60 Prozent der Ackerfläche und 53 Prozent der Bevölkerung der einstigen UdSSR umfaßt Der wirtschaftliche Sprung, geradezu eine Mutation in der Kategorie der wirtschaftlichen Situation, läßt sich daraus ablesen. Die Umwandlung der Verhältnisse auf Markt und Privatproduktion beginnt nämlich zu greifen. Die Lage bessert sich, und zwar merkbar und meßbar.

In unseren westlichen, massenmedial zugänglichen Informationen herrschen aber nach wie vor die Ratastrophenmel-dungen vor: die mafiosen Zustände, die Kriminalität, die bürgerkriegsähnlichen Geschehnisse in manchen GUS-Ländern, die Meldungen über politischen Halbwahnsinn im Kreml. Dabei wird die einseitige Dramaturgie der Informationsvermittlung sichtbar: Nicht das emporwachsende Haus bringt die Schlagzeilen, sondern die Einsturzkatastrophe.

Die negative Sensation ist die wirksame Sensation, und wenn's aufwärts geht, kann man mit gelangweiltem Lächeln wegschauen. Dieser tägliche Appell an eine miserable menschliche Grundeigenschaft steigert nun nicht nur die notwendige Dosierung dieser Schrecken immer höher, damit sie überhaupt noch Aufmerksamkeit erregen, sondern er verzerrt auch alle Proportionen - die Wahrheit kann nicht aufkommen. Macht sich dann auch noch westliche Mißgunst bemerkbar, die etwa auf dem Getreidemarkt die Verwandlung Rußlands vom Abnehmer zum Konkurrenten mit größter Ungunst betrachtet, dann liegt die aktuelle Melange von verzerrter Information ganz offen vor uns.

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