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Von der Anwendung der Zeichen

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„Was in den Zeichen nicht zum Ausdruck kommt, das zeigt ihre Anwendung.“ Diese Feststellung von Ludwig Wittgenstein hat Gerhard Rühm als Motto über seine sprachlichen Experimente der fünfziger Jahre gestellt. An Hand seines neuen Bandes „Gesammelte Gedichte und visuelle Texte“, der Arbeiten aus den Jahren 1952 bis 1969 vereinigt, kann die Entwicklung dieses interessanten Dichters und unruhigen Experimentators gut verfolgt Werden. Gerhard Rühm hat selbst für einen erklärenden Zusatz zu dem Wittgenstein-Zitat gesorgt: „Die Trennung von Inhalt und Form ist hinfällig: etwas anderes gesetzt, bedeutet etwas 'anderes. Eine „Lautkonstellation“ enthält (wie die Musik) nur mate-rdale Beziehungen, nämlich lautliche.“ (Vorwort zu „Die Wiener Gruppe“.)

Es- waren die „Konstellationen“ der Jahre nach 1954, für die diese Überlegung gelten sollte. Im vorliegenden Band finden sie sich im Kapitel „Konstellationen und Ideogramme“. Aus der Kapitelüberschrift erfährt man, daß an dieser Form des Gedichts bis 1964 experimentiert wurde. Erste Ergebnisse fanden sich im Heft „konstellationen“ Nr. 4 der Reihe „konkrete poesie“, gomringer-press, frauenfeld 1961. Die Konstellation „Die Nacht“ nimmt in ihrer einfachen, stimmungsmäßig fein •nuancierten Variationenfolge eine spätere Entwicklung vorweg. Die „Aufwertung der von.der Fixierung auf Aussagen entbundenen Wörter zu gleichberechtigten Elementen“ wird in einem Text wie „Stille — irgendwer sucht mich“ besonders deutlich erkennbar. Durch die Begrif^-erluste, die sich aus den Wortverlusten mit Notwendigkeit ergeben, entsteht freilich eine neue Begriffshierarchie, die der „Aufwertung der Wörter... zu gleichberechtigten Elementen“ In den Weg tritt Gedichte im Wiener Dialekt hat Rühm vor allem in den Jahren 1954 bis 1958 geschrieben. Sie sind in diesem Buch ausgiebig vertreten. Sie füllen nicht nur das Kapitel „Gedichte im Wiener Dialekt“, das liebe alte Bekannte aus „hosn rosn baa“ und aus den „Protokollen“ enthält, sondern bestimmen auch den „Söbsdmeädagraunz“ und die „Wiener Lautiedichte“, die ebenfalls erstmalig in „hosn rosn baa“ zu finden waren. Ruhms Dialektgedichte sind Psychogramme, die stark an den Stimmungshintergrund der Wiener Außenbezirke gebunden sind. Die unbarmherzige Ich-Bezogenheit des Wiener Beißers ist in ihnen ebenso lebendig wie seine Verschmierte Sentimentalität und : sein intensives Selbstmitleid,. das ihn ständig mit dem Tod kokettieren läßt.

Im „Söbsmeadagraunz“ werden sogar so altmodische formale Mittel wie der Reim nicht gescheut, wenn es gilt, die Bindung des Bewußtseins der Wiener Vorstadtbewohner an überkommene und depra vierte ästhetische Valeurs zu zeigen („die waund / die hand / im reindl / des gräud / olla verschwind wia r a woeggal irrt.bläu / in das ich vasingg und ünvawaund schau / mei kobbf wiad scho schwea / und land sl hea / i hob no nia so a auflesung gschbiad / i woa no nia so miad / so mied“).

Hier wird der Stimmungszusammenhang und damit die ,,Fixierung der Wörter auf Aussagen“ streng gewahrt, dafür aber die menschliche Existenz in streng logischer Ereignisfolge bis in das Stadium der Auflösung verfolgt. Andere Texte der gleichen Sammlung verzichten auf die logische Folge der Bezugssituationen und wollen einlach im Leser eine bestimmte Stimmung hervorrufen: „heid 1s so koed bei dia / ge moch a glans feia / und leg ml noch / vahazz mi / mia san e so schdia.“ Die „Dokumentarischen Sonette“ (1969) bauen auf „vorgefundenem Material“ auf. Sie nähern sich daher den „Adaptionen“, die Gerhard Rühm in der Galerie St. Stephan ausgestellt hat. Diese „Adaptationen“ waren vorgefundene Texte („Anzeigen, Programme, Inhaltsverzeichnisse, Warn- und Verbotstafeln, Formulare usw.“), die Gerhard Rühm zu „Gedichten erklärt“ hatte. Er nahm sie in die Sammlung nicht auf, weil „solche Gedichte für jeden beliebig postulierbar sind“. Die „Dokumentarischen Sonette“ verarbeiten Zeitungsnachrichten der Zeit zwischen dem 21. Juli und 3. August 1969. Durch die Reduplikation einzelner Wörter und Silben (zum Beispiel „Verlustlust — lustziffern“ aus „Verlustziffern“ in einem Bericht des „Tagesspiegel“ über Vietnam) werden die Zeitungsnachrichten mit neuen Bedeutungsinhalten angereichert und mit einem neuen semantischen Gehalt erfüllt. Hier werden die ,,von der Fixierung auf Aussagen entbundenen Wörter“ gleichsam auf neue Aussagen fixiert.

„GESAMMELTE GEDICHTE UND VISUELLE . TEXTE“ von Gerhard Rühm. Verlag Roeder. 320 Seiten. DM 25.—.

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