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Der protokollierte Mythos

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DIE WIENER GRUPPE: Acbleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Herausgegeben von Gerhard Rühm. Rowohlt-Verlag, Reinbeck bei Hamburg. 1967. 466 Seiten. S 146.—.

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DIE WIENER GRUPPE: Acbleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Herausgegeben von Gerhard Rühm. Rowohlt-Verlag, Reinbeck bei Hamburg. 1967. 466 Seiten. S 146.—.

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Das, was sich vor rund 15 Jahren langsam formierte, sich — freundschaftlich verbunden — als Gruppe fühlte als „Wiener Gruppe“ und im Laufe der Zeit zum Mythos wurde, ist heute aus dem emstzunehmenden literarischen Leben Österreichs nicht mehr wegzudenken — so gerne es manche auch möchten.

Dieser Mythos (an dessen Bildung die Autoren keinen wesentlichen Anteil hatten, die vielmehr von Isolation und völliger öffentlicher Ablehnung herrührte) bot zu manchen Spekulationen Anlaß und zu ebenso wertlosen wie unbegründeten Emotionen. Vor einiger Zeit nahm der Mythos Gestalt an. Die Gestalt einer umfassenden Publikation.

Das und der Umstand einer durch die Not zur Tugend avancierten zeitlichen Distanz müßte aiuch jenen Leuten, die sonst bei uns das historische Privileg der Ignoranz gegenüber dem Neuen innezuhaben scheinen, eine etwas objektivere Beurteilung oder wenigstens Information ermöglichen

Nach dem Krieg war es zunächst der literarische Nachholbedarf, der die Situation und Tätigkeit der heimischen Künstler bestimmte. Internationale Kontakte und das gleichzeitige Abklingen der unmittelbaren Nachkriegslitenatur legten es vor allem den Jüngeren nahe, sich mit verschiedenen Entwicklungen der Literatur auseinanderzusetzen.

Das erste „Ergebnis“ war der Einzug des Surrealismus. Später wurden Genet, Beckett, Ionesco und die modernen Spanier importiert, die eben erst im Kommen waren. H. C. Artmann war durch seine umfassenden Sprachkenntnisse der große Anreger derer, die sich zum Verlassen der ausgefahrenen Geleise anschickten. Er und Gerhard Rühm entdeckten nun ihre eigene Tradition, die über den Expressionismus und Dadaismus zu einem neuen Konstruktivismus führte. Dichter wie Holz, Scheerbart, Stramm, Schwitters, Semer, Arp, Gertrude Stein waren es, die zählten, und die Devise hieß: mit und nicht nur in der Sprache arbeiten.

Eine Gruppe Gleichgesinnter fand sich: Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm und Wiener. Die „Wiener Gruppe“.

Heute, beim Erscheinen der „Dokumentation“ über diese Gruppe, gibt es sie nicht mehr. Artmann hat seine Kollegen überflügelt und ist arriviert, Friedrich Achleitner hat die Schriftstellerei zugunsten der Architektur in den Hintergrund gestellt, Konrad Bayer beging Selbstmord, Oswald Wiener distanziert sich und Rühm sitzt in Berlin und protokolliert die Vergangenheit. Das mag nicht ganz frei von Komik sein, war aber durchaus zu erwarten. Die fünf experimentierfreudigen Poeten, ein jeder von ihnen eine relativ stark ausgeprägte Persönlichkeit, wurden nämlich mehr durch äußere Widrigkeiten beziehungsweise allgemeine Ablehnung zusammengehalten als durch gewiß vorhandene literarische Grausamkeiten. Trotzdem genügten einige Jahre für eine rege, fruchtbare Zusammenairbeit.

Diese versucht nun Gerhard Rühm, der die „Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen der Wiener Gruppe“ herausgegeben hat, in seinem dreißigseitigen Vorwort zu umreißen. Daß sein historischer Rückblick dabei nicht frei von Gehässigkeiten ist, wird dann verständlicher, wenn man die Verständnislosigkeit und „giftige hilf- losigkedt“ bedenkt, mit der die „lokaimatadore“ die neuen Versuche torpedierten. Rühm schreibt von „prämiierten datterichen verschiedener altersstufen“, die „trotz jausensackerl und schlafwagenbillett vom minoritenplatz über passau nicht hinauskommen“; was allerdings zweifellos — wenigstens in der Länge der Eisenbahnfahrten — eine Untenschätzung der Lokaimatadore darstellt

Auch viele der ian Band enthaltenen Werke muß man aus dieser Stimnfiung (Ver-Stimmung) heraus verstehen. Vor allen Dingen einen Teil der Gemeinschaftsarbeiten; etwa die Operette „der schweißfuß“ oder die „kinderoper“, obwohl gerade sie nicht zum Schlechtesten zählen. Sonst war das Arbeitsfeld der Wiener Gruppe ziemlich groß. Verschiedenes wurde ausprobiert, vieles übernommen und manches erfunden. Im großen kann man ihre Produktion in vier einander bedingende Richtungen einteilen: in allgemein experimentell-konstruktivi- stische Tendenzen, ihre Weirterfüh- rung zu der vom Schweizer Eugen Gomringer so bezeichneten „kon kreten poesie“, in die neue Dialektdichtung und in das „literarische cabaret“.

Alles mögliche neugeordnete Material wurde zur Literatur erklärt. Witze ohne Pointen; mathematisch gereihte Wortfolgen; Montagen; Collagen; einkalkulierte Psychologie; das sprachliche Material durch Herauslösung aus dem kausalen Begriffszusammenhang im „semantischen Schwebezustand“: Reduzierung auf Begriffe; „konstel- lationen“, in denen einzelne Wörter eigenständig wirken; teilweise Auflösung der Syntax zugunsten anderer Ordnungsprinzipien; Ökonomie der Mittel als ästhetische Forderung; visuelle Texte usw.

Die Eigenart der fünf Autoren blieb bei der Vielschichtigkeit des gemeinsamen Bemühens mehr oder weniger erhalten. Jeder nahm die Methoden auf seine Weise an: Wiener als Sammler, im Formularstil schreibend mit wachsender Skepsis, Achleitner (der schwächste der Gruppe), hauptsächlich mit Montagen arbeitend und dem oberösterreichischen Dialekt, Artmann — von der schwarzen Romantik herkommend — mehr intuitiv und weniger doktrinär, Bayer mit mathematisier- ter Sprachvirtuosität und Rühm schließlich — von der Musik her „formal“, „seriell“ denkend — aggressiv, konsequent und am ehesten auf der Linie der konkreten Dichtung.

Die Qualität ist (natürlich) unterschiedlich. Wäre es nicht Aufgabe einer Dokumentation, möglichst viel Material zu bieten, könnte man im Sinne der Autoren ruhig auf rund ein Drittel der Texte verzichten. Unerhebliche Fingerübungen, Späßchen oder — auch das gibt’s — mißglückte Texte lassen sich aufzeigen. Der Rest ist bemerkenswert, und an einigen Arbeiten wird man bei einer allfälligen Bestandsaufnahme der zeitgenössischen österreichischen Literatur nicht vorübergehen können. Interessanterweise sind jene Texte die besten, in denen neben der originellen Idee und der konsequenten Durchführung eines formalen Prinzips den Autoren auch das Temperament und die Phantasie durchgegangen ist. Beispiele für frappierend gelungene Arbeiten sind Artmanns „elegische ode an den kaiser krum“, Rühms „abhandlung über das weltall“, „kosmologie“ (Bayer- Rühm), „kyselak“ (Bayer-Rühm), „starker tobak“ (Bayer-Wiener)

Das Literarische Cabaret ist fast zur Gänze ein Genuß. Der Band „Die Wiener Gruppe“ ist — trotz einiger Schwächen, die man in Kauf nehmen muß — ein nicht hoch genug einzuschätzendes Ereignis. Über die Bedeutung der Wiener Gruppe selbst kann kein Zweifel bestehen. In Österreich wird bis zur Beseitigung dieses Zweifels allerdings noch einige Zeit vergehen.

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