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Das Los der Edlen und Gerechten

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„DIE FAHRT ZUR INSEL.“ Von H. C. Ar t mann. Luchterhand, 280 Seiten, DM 10.—.

Eine Sammlung der „Spiele, Szenarien, Pantomimen und Libretti“ von Hans Carl Artmann kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Wer das Leben des Dichters und seine Gewohnheiten kennt, weiß nur zu gut, daß geheime Verstecke noch vergrabene Schätze bergen dürften. Schon Konrad Bayer hat festgestellt, daß „Der Tod eines Leuchtturmwärters“ (nicht eines „Leuchtturms“, wie Mario Hindermann in der „Redaktionellen Anmerkung“ irrtümlich angibt), wahrscheinlich für verloren gehalten werden muß.

Ähnlich verhält es sich wohl mit einem Teil der Einminutenstücke, die 1963/64 in Malmö entstanden sind. Anderen Arbeiten hat der Dichter selbst aus unbekannten Gründen die Aufnahme in den Sammelband verweigert. Zu diesen gehört seltsamerweise „Der Knabe mit dem Brokat“, ein Opernlibretto für Gerhard Lampersberg. Der verbleibende Rest ist immerhin ansehnlich genug, um ein anschauliches Bild von der Entwicklung des Dramatikers H. C. Artmann zu vermitteln. Er umfaßt achtundzwanzig Stücke, wenn man das Canevas zu „Bri-ghella, sauer wie der Mann im Mond“ nicht gesondert rechnet. Die Entstehungszeit reicht von 1952 bis 1966. Am fruchtbarsten erweisen sich die Jahre 1952 bis 1957 (12 Stücke) und 1960/61 (7 Stücke).

Stilistisch reicht das hier gesammelte dramatische Material aus der Schreibmaschine von H. C. Artmann von der Horvath-Nachfolge, in der „Kein Pfeffer für Czermak“ (1954) steht, bis zu surrealen Techniken, wie sie in „Punch“ (1966) angewendet werden. Fast als kontinuierliche Begleitung von Arbmanns dramatischem Oeuvre darf die Beziehung zur Com-media dell'arte und ihrem ständigen Figuren- und Metaphernvorrat betrachtet werden. Sie bestimmt den „Aufbruch nach Amsterdam“ (1954), wo die Diener als Polichinellen, die Mädchen als Colombinen gekleidet sind. Der Einflußsphäre der Comme-dia dell'arte gehört auch das letzte Werk der Sammlung zu, das Fragment „Brighella, sauer wie der Mann im Mond“, das in Venedig spielt und die altvertrauten Gestalten Dottore, Pantalone, Leandro und Brighella auf die Bretter stellt. „Die ungläubige Colombina“ (1955), „Die mißglückte Luftreise“ (1955) und „Die Hochzeit Caspars mit Gelsomina“ (1960) bauen mehr auf der wienerischen Abart der Commedia dell'arte, der Hanswurstkomödie des achtzehnten Jahrhunderts, auf. Der Katalog der Einflüsse, die auf den Dramatiker H. C. Artmann eingewirkt haben, ist mit diesen Beispielen keineswegs erschöpft. Von den Expressionisten stehen ihm wohl Kokoschka („Hiob“) und Toller („Die Rache des verhöhnten Liebhabers“) am nächsten. Nicht vergessen dürfen die Minidramen von Ramon Gomez de la Serna werden. Die Wiener

Dichtergruppe selbst hat mit ihren zwischen 1952 und 1959 erarbeiteten, erweiterten und vervollständigten Techniken der literarischen Montage der Invention und der Konstellation wesentlich zur Stilbildung ihres Oberhauptes beigetragen.

„Die Fahrt zur Insel Nantuckett“ (1954), das kurze Spiel, das dem Band den Titel gegeben hat, ist das einzige Stück der Sammlung, das zur Gänze in einer nicht existierenden Sprache geschrieben ist. Diese Sprache entbehrt zwar des unmittelbaren Wortsinns, ist aber emotionell vollkommen verständlich. Diese Ausbildung eines „neuen“ Idioms zur Veranschaulichung eines surrealen Tatbestandes — der Verbindung des englischen Seereisenden Rutherford mit der Meerfrau Arindoxo — hat ihre Wurzel ohne Zweifel bei Dada, vor allem in den Gedichten von Hugo Ball, wie „Totenklage“, „Wolken“ „Seepferdchen und Flugfische“. Manche Motive entstammen dem Vorstellungsbereich des Theaters der Grausamkeit von Antonin Artaud. Das in „Le Theatre et son double“ niedergelegte Glaubensbekenntnis dieses Vaters der modernen Bühne dürfte weitgehend auch für H. C Artmann Geltung haben. „Aufgabe des Theaters ist nicht die Lösung von sozialen und psychologischen Konflikten, nicht der Kampf sittlicher Leidenschaft, sondern der objektive Ausdruck verschlüsselter Wahrheiten ... Man muß die Sprache als eine Form der Anrufung betrachten ... So erscheint das Theater als eine Kombination vom Elementen, die sich aus Halluzination und Angst geformt haben.“ Zu diesen Elementen aus Halluzination und Angst gehören einige der stets wiederkehrenden Motive von Artmann, z. B. die abgeschnittenen Hände, die ein gespenstiges Eigenleben führen, in „Kein Pfeffer für Czermak“ und in „Aufbruch nach Amsterdam“, wo Liviana die Hände der Hortensia, die „schön sind wie ein Amulett“, abschneiden möchte, um sie, wie ein Totem in Leder eingenäht, auf der Brust zu tragen. Amsterdam ist ein Ort, der offenbar aus halluzinatorischen und furchterregenden Elementen geformt ist. Glonnensalz in „Aufbruch nach

Amsterdam“ erwartet ängstlich eine „Nachricht vom Schiffsbaumeister aus Amsterdam“, während Herr Catapult in „das Los der Edlen und Gerechten“ klagt „Damone ging/ nach Amsterdam/worauf er/niemals wiederkam.“

Artmann verdankt als Dramatiker dem österreichischen Zaubermärchen, das mit Raimund in die deutsche Hochliteratur Eingang gefunden hat, wesentliche Anregungen. Er ist freilich kein Neo-Romantiker, der Biedermeier-Märchen für unsere Zeit zu bewahren sucht. Seine Feen und Nixen, Zauberer und Ungeheuer, Flußgeister und Vampire sind verfremdete Exemplare aus dem großen Panoptikum des trivialen Alltags unserer Zeit. Sie wirken exotisch, weil sie aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen sind. Aber ein einziges Wort genügt und sie kehren an ihren historischen Platz zurück. Dieser ähnelt dann zumeist dem Vorstadtcafe, in dem der Ober Herr Josef dem Stammgast Herrn Lackl das Bestellte mit den Worten „Erlaubent, Schas, sehr heiß bittee“ auf den Tisch stellt. Der gut ausgestattete Band enthält als Einleitung einen Essay von Peter O. Chotjewitz mit dem seltsamen Titel „In Artmanns Welt“. Der Referent aber glaubt nicht, daß es „Artmanns Welt“ überhaupt gibt, er hält nur ein Sammelsurium aus verschiedenen Welten, die alle in irgendeiner mysteriösen Beziehung zum Phänomen H. C. Artmann stehen, für möglich. Aber Peter O. Chotjewitz gilt als der Artmann-Experte par excellence, seitdem er vor fünf Jahren erklärt hat, Artmann sei wahrscheinlich der einzige Dichter, den die deutschsprachige Literatur nach 1945 hervorgebracht hat. So kühn und apodiktisch diese Behauptung auch sein mag — Experten soll man lieber nicht widersprechen.

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