6642224-1958_01_12.jpg
Digital In Arbeit

Kleinkunst — ganz groß

Werbung
Werbung
Werbung

Da sind zunächst sechs neue Bändchen der „Meinen Geschenkbücher“ (Umfang etwa 70 Seiten, Preis je 3.80 DM). Eine „Studie“ nennt Heinz Risse seine eher als höfliches Pamphlet zu bezeichnenden Randbemerkungen zu Kunst und Leben von Paul Cezanne und Gottfried Benn. Der Autor weiß um die Fragwürdigkeit solcher Parallelen. Immerhin gibt es bei den beiden Künstlern einige Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte: die Absolutsetzung der Kunst, die Annäherung an das „Gesetz der Kälte“ und das ausgeprägte Einsamkeitsbedürfnis (das immer wieder durch den Drang nach öffentlicher Anerkennung gestört wird), eine gewisse Koketterie und Schauspielerei, das durch die Künstlerschaft ab und zu durchscheinende Spießbürgertum und anderes mehr. Cezannes Versuchung war der „offizielle Salon“, in den er a tout prix

aufgenommen werden sollte. Benns schwache Stunden waren zu Beginn des 1000jährigen Reiches. Aber wenn Risse darauf insistiert, so möchte man ihm mit Brecht zu bedenken geben: „Gedenkt, wenn ihr von unseren Schwächen sprecht, auch der finsteren Zeit, der ihr entronnen seid... Gedenket unser mit Nachsicht.“ v

„Der schiefe Turm“, ein Essay von Virginia W o o 1 f, ist eine Stunde über die Wandlung des englischen Schriftstellers während der letzten 15,0 Jahre, und gab den Titel für eine Auswahl von fünf kurzen Prosastücken dieser hochbedeutenden Schriftstellerin, deren Gesamtwerk, soweit es ins Deutsche übersetzt wurde, bei S. Fischer erschienen ist. „Der Tod des Nachtfalters“, „Der Augenblick: Sommernacht“, „Die alte Mutter Grey“ und der ironische Angriff einer Hochstirnlerin (= Vollblutintelligenzler) gegen die Mittelstirnler wurden von Herberth und Marlys Herlitschka sehr lebendig ins Deutsche übertragen.

Knut Hamsuns Erzählung „Die Nachbarstadt“, 1917 geschrieben, aber erst 1939 veröffentlicht und jetzt erstmalig von Jutta und Theodor Knust ins Deutsche übersetzt, berichtet von einem Besuch und enthält die Beschreibung jener kleinen Hafenstadt, aus der August Weltumsegler und einige andere unvergeßliche Kumpane des großen norwegischen Erzählers stammen könnten. Ein kleines Meisterstück: ironisch, elegisch und sehr männlich...

Unter dem sachlichen und ein wenig scheinheiligen Titel „W ettfahrt nach China — Biographie einer Urgroßmutter“ verbirgt sich eine groteske, mit bärbeißigem Humor vorgetragene Geschichte von einer denkwürdigen Person: der Dame Christiane West, die nachzulesen niemand reuen wird. (N. H. Reimers hat sie aus dem Englischen übersetzt.) Für einige Angaben über den Autor — er heißt Neil Paterson — wäre man dankbar.

Johannes P i r o n hat unter dem Titel „M u-scheln der Tieflande“ niederländische Lyrik von heute ausgewählt und ins Deutsche zu übertragen versucht. Glanz und Elend der schweren Ueber-

setzerkunst werden bei der Lektüre dieses Bändchens wieder einmal deutlich: das „Was“ kann man erfassen (den Weg dieser 30 nach 1900 geborenen Dichter vom Symbolismus der „Achtzigerbewegung“, zu den „Experimenten“, die bereits dem Surrealismus und der abstrakten Lyrik etwa eines Arp verwandt sind) — aber das „Wie“ kann man nur ahnen, und über die wirklichen Qualitäten dieser Holländer und Flamen wagt der Leser kein Urteil.

Schließlich ein „Wiener Brevier — Ferdinand Raimund und Johann Nestroy“, dessen Titel insofern etwas zuviel verspricht, als Raimund lediglich als poetischer Aufputz benützt wurde (nur etwa ein Zehntel der Aphorismen und Zitate stammen von ihm). Aber Nestroy erweist sich als wahrer Klassiker der wienerischen Lebensphilosophie, die der Herausgeber Christian M e 11 i n so trefflich, wie ein gelernter Wiener, in einem kurzen Vorwort erläutert hat. Die Textzeichnungen von Rudolf Rhomberg stehen dem in nichts nach. (Diesen .Mann sollte man auch Herzmanowsky-Orlando illustrieren lassen!)

„Mästerfeuilleton“ heißt eine andere Reihe des Langen-Müller-Verlages, München, obwohl es da auch Gedichte und Bildbände gibt. Sie sind etwas größer als die „Kleinen Geschenkbücher“, haben zirka 100 Seiten, Glanzfolie und kosten je 5.80 DM. — „Die gelenkige Gen er a tio n“ ist der Titel einer Sammlung von 12 Essays und heißt eine Studie von Dieter Lattermann, Jahrgang 1926, in der der Autor jene Generation spiegelt und röntgent, welche die „verlorene“, dife von zwei Weltkriegen lädiert wurde, ablöste. In den Momentaufnahmen und Streiflichtern, Stimmungsbildern und Skizzen ist mit leichter Hand Wesentliches über unsere Zeit fixiert und aussagt: ihre Schönheit und ihren Schmerz, ihre Härte und ihre Schwäche.

Ferdinand Langen, ein holländischer Feuilletonist, versucht in den zwei Dutzend Humoresken „Rot mit weißen Streifchen“ etwas Aehnliches. Aber er schildert mit der Ruhe des Phlegmatikers den akrobatischen Kampf des Menschen gegen die Tücke des Objekts. — Marga Thierfelder hat diese kleinen Meisterfeuilletons übersetzt und Theo Kittsteiner hat sie mit Zeichnungen ausgestattet, nicht unähnlich denen des Erich-Kästner-Illu-strators Erich Ohser.

Der kritischeste und bitterste von den dreien ist, der „Lyriker“ Wolfdietrich Schnurre, der den „A b e n d 1 ä n d 1 e r ri“ — dies der Titel seiner meist kurzzeiiigen Gedichte — mit der Respektlosigkeit des Satirikers zusetzt. Kultur im Westen und Kultura im Osten, Bürger und Bonzen, Poeten und Soldaten — alle kriegen ihr Fett. Mit wahrer Rage wird der rosa Verputz von der Fassade des deutschen Wirtschaftswunders abgeklopft. Etwa so: „Wieder ein Hochhaus fertiggestellt — der Altersversicherung .Regina'. — Ach, wie verläßlich schützt diese Gralsburg doch unser Leben ( Stund' nur nicht so tot und grundhäßlich — die Synagogenruine daneben.“ — Die bösen Zeichnungen des Autors sind dem Inhalt seiner bitteren Verse adäquat. Die besten stehen denen von Georg Grosz kaum nach. Wer jgien großen Satiriker des wilhelminischen und republikanischen Deutschland schätzt, der möge ruhig auch zu dem Büchlein von Schnurre greifen. Geistvolle Unterhaltung und harte Belehrung ist dem Leser sicher.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung