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Alternative Revolution

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In Lima ist die neunte Auflage erschienen; in allen Ländern Amerikas liest man bereits darin; Präsident Reagan zitiert daraus; die Entwicklungs-Theoretiker sind davon aufgescheucht: Eine peruanische Studie über die Schattenwirtschaft ist ein Bestseller geworden.

Zur Debatte stehen die 317 Seiten einer unorthodoxen Arbeit, „El otro Sendero“ (Lima: Editori-al El Barranco, 1986), die Hernan-do de Soto als Koordinator eines Forschungsteams herausgegeben hat. Der Titel „Der andere Weg“

weist schon auf das Thema, den informellen Sektor, ist aber auch eine Anspielung auf Wertung, die der selbstmörderischen Guerilla des „Sendero Luminoso“ eine alternative Revolution gegenüberstellt.

Hernando de Soto ist nicht etwa ein Entwicklungssoziologe, der die wirtschaftliche Struktur des Landes außerhalb der offiziellen Zahlen unter die Lupe nimmt, nein, er ist ein peruanischer Unternehmer mit internationaler Erfahrung, er ist Planer, Banker und Direktor des jungen „Institu-to Libertad y Democracia“ in Lima, wo aus unternehmerfreundlicher Sicht über die Zukunft des darniederliegenden Landes nachgedacht wird.

Das Forschungsteam beobachtete und studierte das Chaos, in dem Perus Hauptstadt Lima täglich haust (und das für viele andere lateinamerikanischen Metropolen mehr oder weniger auch typisch ist). Aber: Die übliche Argumentation, die Limas Straßenhändler, Budenverkäufer, wilde Siedler und indianische Migranten als Stigma verdammt, wird in der Studie auf den Kopf gestellt. Die „economia informal“, also das, was in unserem Sprachgebrauch wenig freundlich mit „Schwarzarbeit“ bezeichnet wird, so die These, ist das, was das Land eigentlich zusammenhält!

Treffender ist es, „economia informal“ mit „Schattenwirtschaft“ oder „informeller Sektor“ zu übersetzen, wenn man der Studie in ihrer Erforschung der Ursachen folgt. Denn in Lima und in Peru ist dieser Sektor nicht eine Randerscheinung, sondern ein omnipräsentes Phänomen, das wichtiger als die formale Nationalökonomie geworden ist.

Die Ursachen sind die Unfähigkeit und Unwilligkeit des überbü-rokratisierten Staates, den sechs Millionen Bürgern der Kapitale Wohnen, Brot und Arbeit zu bieten. Die verkrustete Verwaltung tut nichts, sie verordnet nur noch — für Perus Geschäftsleben allein gelten in etwa eine Million Dekrete! Die kleinen Leute müssen sich selber helfen, indem sie gegen alle Widerstände ihre wirtschaftlichen Mikro-Aktivitäten entfalten.

Natürlich würden die kleinen Leute lieber innerhalb der Legalität tätig sein, aber eine Fallstudie, die das De-Soto-Team durchspielte, zeigt, warum dies unmöglich ist: Für die Eröffnung einer Flickschneiderei benötigte das Team 289 Tage mit Behördengängen, und die Unkosten für Erlaubnisscheine und Stempel betrugen 1.231 US-Dollar, also das 32fache des vorgeschriebenen peruanischen Mindestmonatslohns. Das kann sich kein Handwerker leisten.

So sind die Bereiche Handel, Kleinindustrie, Handwerk, Wohnen, aber auch etwa Transport zum größeren Teil durch die

Schattenwirtschaft abgedeckt. Mehr als die Hälfte der sechs Millionen Einwohner Limas leben in selbstgebauten „Häusern“. Hernando de Soto fragt angesichts der Notwendigkeit der Schattenwirtschaft, ob es denn nicht gescheiter wäre, sie anzuerkennen, als sie von Polizisten wegknüppeln zu lassen, ob man sie nicht unterstützen sollte, damit sie unter menschenwürdigen Bedingungen funktionieren könne; ob es nicht nützlicher wäre, die Leistungen der kleinen Leute in Lima anzuerkennen, anstatt sie als Lumpenproletariat und als Touristenschreck zu denunzieren.

Letztlich, so das Schlußwort des bemerkenswerten Bandes, seien hier Kräfte am Werk, die Perus eigentliche Revolution bewerkstelligen. Denn nicht die wahnwitzigen Guerilleros des „Sendero Luminoso“ veränderten nachhaltig das Gesicht des Andenstaates, sondern die kleinen Leute aus der Schattenwirtschaft, deren emsiger Fleiß gegen die Trägheit einer arroganten Staatsbürokratie die Zukunft des Landes zu formen beginnt.

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