Sternstunde oder Desaster

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Die Beobachtung des US-Wahlkampfes legt den Schluss nahe, dass Europa sowohl außen- als auch handelspolitisch wesentlich eigenständiger agieren muss als bisher.

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Die Beobachtung des US-Wahlkampfes legt den Schluss nahe, dass Europa sowohl außen- als auch handelspolitisch wesentlich eigenständiger agieren muss als bisher.

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Es gibt Nachrichten, die uns wie aus der Zeit gefallen erscheinen. Wer aus meiner Generation hätte sich vor einem halben Jahrhundert träumen lassen, dass eines Tages die Rolling Stones mit einem Gratiskonzert für 500.000 Fans die Begleitmusik zur politischen Aussöhnung zwischen den USA und Kuba liefern würden? Ob Mick Jagger wohl auch "Sympathy for the devil" durchs Stadion von Havanna dröhnen ließ, jenen genialen Song aus dem Jahr 1968, in dem der Teufel mit seinem zerstörerischen Treiben in der Geschichte prahlt und uns am Ende als seine Komplizen entlarvt?

Aber letztlich ist das Kuba-Thema nur mehr ein Versatzstück aus der versunkenen Welt des Kalten Krieges. Viel entscheidender wären taugliche Antworten auf die zunehmend aussichtslos erscheinende geopolitische Lage im Nahen Osten und Nordafrika. Nachdem der "Arabische Frühling" praktisch keine der in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt und stattdessen eine ganze Region in die faktische Unregierbarkeit geführt hat, scheint Präsident Obama dort aufgegeben zu haben. Die Befreiung Palmyras von den IS-Schergen wurde zuletzt russischen Bodentruppen überlassen. Europa hingegen erbt die Kollateralschäden der mit der Irak-Invasion einsetzenden Kettenreaktion an außenpolitischen Fehlleistungen und findet darauf keine eigenständigen Antworten.

Die Bedeutung der im November bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen kann vor diesem Hintergrund nicht überschätzt werden. Denn ob aus einer kritischen Entscheidungssituation eine "Sternstunde der Menschheit" (© Stefan Zweig) wird oder die Abzweigung ins nächste Desaster, hängt immer noch von Charakter, Erfahrung und Durchsetzungskraft der in politischer Verantwortung stehenden Personen ab.

Der "Skandinavier" Bernie Sanders

Wie anders wäre wohl das Weltschicksal verlaufen, hätte im November 2000 Al Gore, damals Vizepräsident Bill Clintons, die Wahlen gewonnen? Dass Jeb Bush, der als Gouverneur von Florida Wahlmanipulationen zugunsten seines Bruders George W. Vorschub leistete, nun bei den Vorwahlen aus dem Rennen flog, mag eine Rache der Geschichte sein. Wirklich tröstlich ist das allerdings nicht, wenn man sieht, wer stattdessen bei den Republikanern im Vormarsch ist.

Die Ausgangslage auf Seiten der Demokraten ist wesentlich anspruchsvoller. Der erfahrenen Außenpolitikerin Hillary Clinton ist die Kandidatur wohl sicher. Sie hat jedoch in Bernie Sanders einen spannenden Mitbewerber, der unter dem Einfluss von Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs in der Sozial-,Bildungsund Gesundheitspolitik letztlich auf ein den skandinavischen Staaten nachgebildetes Modell abzielt. Man darf neugierig sein, welche seiner Positionen sich im Programm der ersten US-Präsidentin wiederfinden würden.

All die (Vor-)Wahlbeobachtung legt aber jedenfalls den Schluss nahe, dass Europa sowohl außen- als auch handelspolitisch wesentlich eigenständiger agieren muss als bisher. Nur so könnte es vom Betroffenen zum Mit-Gestalter der Weltpolitik werden.

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