Revolutionär & transzendental

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Furche Nr.39/26. September 1984

Anfang September 1984 wurde der Befreiungstheologe Leonardo Boff zu einem "brüderlichen Gespräch" vor die Glaubenskongregation zitiert. Der damalige Dogmatikprofessor in Fribourg, P. Christoph Schönborn OP, dazu:

Wer sich heute über die Schriften eines lateinamerikanischen Theologen kritisch äußert, gerät sofort in den Verdacht, er tue dies von einer bequemen Lehr- oder Lehnstuhlposition aus, die ihm ein auf der Not der Dritten Welt auflastender Wohlstand ermöglicht. Der Vorwurf mag, was die Position angeht, treffen, damit ist aber noch nichts über die sachliche Berechtigung der Kritik gesagt ... Es ist trivial; muß aber gelegentlich gesagt werden: ein Theologe eines "reichen Landes" kann gelegentlich zur Frage "das Evangelium und die Armen" Richtiges sagen ... So trivial ist diese Feststellung nun freilich auch wieder nicht. Denn wer ihr zustimmt, hat bereits ein ... Interpretationsmuster der marxistischen Gesellschaftsanalyse abgelehnt: daß nämlich die Wahrheit eine Sache der Klassenzugehörigkeit ist ... Ist die "Option für die Armen" und die Theologie der Befreiung ins Schlepptau der ... Ideologie des Klassenkampfes geraten?

In diesem Text geht Boff von der Annahme aus, "daß die organisierende Achse einer Gesellschaft in ihrer spezifischen Produktionsweise besteht...; auf ihr gründet alles Weitere in der Gesellschaft". Auch die Religion? Boff nimmt, trotz dieser ... Grundthese, insofern vom Marxismus Abstand, als für ihn der religiös-kirchliche Bereich "nicht gänzlich durch das Gesellschaftsgeschehen festgelegt ist" ... Dennoch färbe die Klassenstruktur der Gesellschaft auch auf die Kirche ab, ... "ist es unvermeidlich, daß die Konflikte zwischen den Klassen auch die Kirche zerreißen"... Wenn die Kirche sich auf die Seite des "Herrschaftsblocks" stelle, "könnte man von einem Prozeß sprechen, in dem der Klerus dem christlichen Volk die religiösen Produktionsmittel enteignet". Das müsse, aber nicht so sein. - Es könne zu einem Bruch kommen, indem die Kirche sich "für die unterprivilegierten Klassen engagiert" und "sich für einen revolutionären Dienst anbietet". Dabei käme unter den stark religiösen Massen Lateinamerikas der Religion eine positive Rolle im Befreiungskampf zu ... Um diese Rolle spielen zu können, müsse freilich erst der revolutionäre Charakter des Evangeliums wieder freigelegt werden ... Daher kündigt Boff auch ein ganzes Programm der Uminterpretation an ... "Aus dieser Sicht werden die Hauptstücke des Glaubens neu gedeutet und die befreienden Dimensionen wieder aufgedeckt." Das heißt dann auch: "Bruch mit den herrschenden kirchlichen Traditionen", nur so könne es einen "Rückgriff auf den ursprünglichen Gehalt des Christentums" geben. Praktisch fordert Boff daher den Bruch mit ... Apostolatsbewegungen wie "Cursillos, christliche Familienbewegung, charismatische Erneuerung", denn "diese Art von Kirche ... ist Teil der Vorstellung der herrschenden Klasse". - Spätestens hier sind Gegenfragen nicht mehr zurückzuhalten ...

Nächste Woche: N. Leser 1985 über Totalitarismus der Grünen.

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