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Die Gnadenrechte des Bundespräsidenten

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Die Folgen des Zusammenbruches der Mittelmächte blieben in den Nachfolgestaaten nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung der Verfassungsgesetze, die zum Aufbau einer neuen Staats- und Regierungsform notwendig wurden und die Macht des neuen Staatsoberhauptes mehr oder weniger einschränkten. In der nach dem Muster einer rein parlamentarischen Demokratie eingerichteten österreichischen Republik wurde der Bundespräsident im Sinne des Artikels 60 des neuen Bundesverfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 nur von der Bundesversammlung gewählt. Es wurde ihm zwar gemäß Artikel 65 dieses Verfassungsgesetzes unter anderen Befugnissen auch das Recht zur Gewährung von nicht auf Rechtsansprüche beruhenden Begünstigungen an Einzelpersonen (in der Praxis als das Gnadenrecht des Bundespräsidenten bezeichnet) zuerkannt, aber laut Artikel 67 die Bedingung ausgesprochen, daß alle seine Akte auf Antrag der Bundesregierung zu erfolgen haben und zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung der zuständigen Minister bedürfen. Diese Bestimmungen des ersten Verfassungsgesetzes, die die Gebundenheit des Bundespräsidenten an die Anträge der Ressortminister festlegen, mindern seine Gleichstellung mit den Staatsoberhäuptern anderer Republiken hinsichtlich der Rechte in Gnadensachen. Sie wurden unter dem Eindruck der Auflösung der Monarchie getroffen und sollten im Interesse des Ansehens der Republik nicht verankert bleiben. Die zweite Bundesverfassungsnovelle vom 7 Dezember 1929 aier änderte nichts an diesen Bestimmungen, obwohl Österreich zu einer parlamentarischen

Präsidentscha/tsrepublik erklärt wurde und der Bundespräsident nicht mehr von der Bundesversammlung, sondern in Hinkunft vom Bundesvolk in unmittelbarer und geheimer Wahl gewählt werden sollte. Nur dem Umstände, daß die Wahl des Bundespräsidenten faktisch noch weiterhin von der Bundesversammlung vorgenommen wurde, dürfte es zuzuschreiben sein, daß der Gedanke an die Verbesserung seines Gnadenrechtes und an seine Gleichstellung mit anderen Staatsoberhäuptern von demokratischen Republiken nicht aufkam. Erst die letzte, tatsächlich vom Bundesvolk vollzogene Wahl berechtigt die Aufrollung dieses Gedankens, der seine Realisierung in der parlamentarischen Feststellung der erweiterten Rechte des Bundespräsidenten finden würde, indem den Ministern wohl wie bisher die meritorische Begutachtung der an den Bundespräsidenten gerichteten Gnadengesuche auf Grund von Gesetzen oder vorhandenen Akten obliegt, die Entscheidung aber, ob die Bitte eines Staatsbürgers abgewiesen oder gewährt werden soll, allein dem Bundespräsidenten vorbehalten wäre.

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