"Spitäler statt Arenen“

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Die Proteste in Brasilien haben in den vergangenen Tagen Millionen auf die Straße getrieben. Der Fußball wird zur Bühne einer breiten Protestbewegung aller Schichten. Eine Reportage.

Es scheint die Zeit für große Worte. "Ich denke, das sind keine Proteste. Das ist eine Revolution.“ Eindringlich blickt der Flaggenverkäufer über seine Clownsnase hinweg auf die Praça Alencastro mitten in Cuiabá, die sich immer mehr füllt. "Im ganzen Land finden heute Kundgebungen statt.“ Der Mann, der anonym bleiben will, ist nicht nur hier, um seine Fahnen los zu werden. "Ich demonstriere auch - gegen alles, was hier verkehrt läuft: Politiker, die sich die Taschen vollstopfen, das Bildungssystem, die Gesundheitsversorgung.“

Zwei Stunden später setzt sich ein Zug aus 50.000 Menschen in Bewegung: die größte Demonstration in der Geschichte Cuiabás, der Hauptstadt des Bundesstaates Mato Grosso. Die Protestwelle, die vor rund zwei Wochen im 1500 Kilometer entfernten São Paulo mit den ersten Kundgebungen gegen Fahrpreiserhöhungen begann, hat damit den dünn besiedelten Westen Brasiliens erreicht. Dieser 20. Juni ist ihr bisheriger Höhepunkt: in 100 Städten folgen mehr als eine Million Menschen dem Slogan der Demonstrationen: Vem na rua - Kommt auf die Straße -, der jetzt auch durch Cuiabá schallt.

Zuspitzung im Osten

In den Metropolen im Osten hat sich die Lage inzwischen zugespitzt: unter anderem stehen Straßenschlachten in Belo Horizonte, Plünderungen in São Paulo und ein exzessiver Tränengaseinsatz in Rio de Janeiro in der Bilanz der zweiten Woche der Proteste. An deren Ende kündigte Präsidentin Dilma Rousseff in einer live ausgestrahlten TV-Ansprache an, auf die Forderungen der Demonstranten einzugehen. Die Regierung hofft, der Bewegung so den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Doch Anzeichen dafür, dass die Kundgebungen abflauen könnten, gibt es keine. Zu groß ist der Unmut, zu breit die Koalition, die sich hier fomiert. Auf den Straßen Cuiabás sieht man an diesem Abend Plakate gegen Privatisierungen, für ein öffentliches Gesundheits- und Bildungssystem und vor allem immer wieder gegen die Korruption.

Ein altes Paar hat neun Stunden Anreise hinter sich. Der Mann trägt eine Fahne der Landlosenbewegung Movimento Dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST). "Der Kampf in der Stadt“, sagt er, "ist der Gleiche wie auf dem Land.“

In europäischen Ohren klingen solche Parolen durchaus überraschend, denn vernahm man nicht in den letzten Jahren die Nachrichten von einem aufstrebenden Land, mit Wachstumsziffern, von denen man in der Alten Welt nur noch träumen konnte?

Und mit einer sozialdemokratischen Steuerung dieses Wachstums durch die Arbeiterpartei (PT), einer zumindest ansatzweise Umverteilung zugunsten der Ärmsten, begonnen mit der Regierung Lula da Silvas, fortgesetzt unter seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff?

Die kommenden Großereignisse, die Fussball-WM 2014 und die Olympiade in Rio de Janeiro 2016 sollten der Welt zeigen, dass der "schlafende Gigant“, als der Brasilien oft bezeichnet wurde, erwacht ist, und das sprichwörtliche Versprechen vom "Land der Zukunft“ endlich eingelöst wird. Doch just diese Mega-Events stehen nun im Fokus der Proteste: kurz nach den ersten Demonstrationen in São Paulo begann der Confederations Cup, das offizielle WM-Vorbereitungsturnier, das gemeinhin als sportlicher und organisatorischer Testlauf gilt.

Die ausgepfiffene Präsidentin

Die inhaltliche Verbindung zwischen Fahrpreiserhöhungen, der fortbestehenden sozialen Schieflage und Milliardenausgaben für WM und Olympia lagen auf der Hand.

Vor dem Eröffnungsspiel wurde die Präsidentin laut und vernehmlich ausgepfiffen. Wenige Tage später wurde aus der inhaltlichen eine räumliche Nähe: vor dem zweiten Spiel der brasilianischen Seleção in Fortaleza hinderten Demonstranten Fans am Zugang zum Stadion.

Der Confederations Cup ist damit nicht nur eine Bühne für die Proteste, wie manche Medien es anfangs interpretierten: er ist ein Akzelerator der Kundgebungen und Demonstrationszüge. Copa da Manifestaç˜aos ist der Spitzname, den das Turnier trägt. "Ich will keine Arena, ich will Bildung“, steht auf dem Plakat einer Frau um die 30 auf der Praça Alencastro von Cuiabá.

2014 finden in der Stadt vier WM-Spiele statt. Ein paar Meter weiter steht eine rote Säule, auf der die Tage bis zum ersten heruntergezählt werden: 357. Am Vorabend der Großdemonstration gab es eine kleinere mit ein paar tausend Teilnehmern. "Wie viele Krankenhäuser passen in eine Arena?“ war dort auf einem Plakat zu lesen. Und nicht zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte der WM stellt sich die Frage, was mit dem neuen Stadion nach der WM passiert. Knapp zwei Millionen Euro soll die "Arena Pantanal“ mit ihren rund 43.000 Plätzen kosten. Die lokalen Dritt- und Viertligisten werden dafür kaum Verwendung haben.

Wohin steuert Brasilien

Was die soziale Komponente der Proteste betrifft, stehen Brasilien nun spannende Wochen bevor. Für die neue Bewegung wird sich die Frage stellen, in welche Richtung sie gehen will. Bislang ist sie äußerst heterogen. Sie wird getragen von jungen Aktivisten aus der Mittelschicht, umfasst aber auch linke Gruppierungen wie die sozialistische Studentenorganisation Alternativa Estudantil Pela Base (AEB). Neben der inhaltlichen Flexibilität verbinden sie nicht nur Acessoires wie Clownsnasen und Anonymous-Masken mit globalen Protestbewegungen wie Occupy, sondern auch die Rolle sozialer Netzwerk bei der Organisation.

Ein Novum indes ist, das sich ausgerechnet in Brasilien, in Europa oft als das Fussball-Land schlechthin angesehen, eine soziale Protestbewegung den Interessen des Fussball-Weltverbands FIFA in den Weg stellt. Deren neoliberale Logik bei der Ausrichtung einer WM, bislang nur von Journalisten und Fangruppen kritisch hinterfragt, erfährt damit zum ersten Mal breiten gesellschaftlichen Gegenwind. Ganz zu schweigen davon, dass sich die einheimischen Kicker keineswegs aus der Sache heraushalten. Mehrere Spieler solidarisierten sich, und Coach Felipe Scolari erklärte gar mit Pathos: "Die Seleção gehört dem Volk.“

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