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Die Schuld der „Schuldlosen“

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„Schlafwandler“ nannte Hermann Broch die Deutschen des Zweiten Reiches. Die in den zwanziger Jahren begonnene Trilogie stellte den Wandel der Zeit an drei Gestalten dar: „Pasenow oder die Romantik, 1888“, schildert, fast mit Fontaneschen Farben, die unwirkliche Welt des preußischen Adels und der Offiziere; „Esch oder die Anarchie, 1903“, im karikaturistischen Stil Heinrich Manns das Heraufkommen des Kleinbürgertums; „Huguenau oder die Sachlichkeit, 1918“, die gestörte menschliche und gesellschaftliche Ordnung und ihre Auflösung. In diesem Buch ist auch — wohl nicht ohne das Vorbild von James Joyce — die erzählerische Form gesprengt. Diese drei Romane, allzu knapp vor dem Beginn des Dritten Reiches erschienen, begründeten wenn nicht den Ruhm, so doch den Ruf Hermann Brochs als eines bedeutenden Schriftstellers. Das Bild, das er entwarf, war einseitig, es fehlte dem Autor an Erfährung und realer Vorstellung: seine literarische Psychologie wurde auf Menschen und gesellschaftliche Verhältnisse angewendet, die ihm wesensmäßig recht fremd waren. Aber in ihre Tiefenschicht und in die gefühlsmäßigen Unterströmungen tat er intuitive Einblicke, deren Richtigkeit die folgenden Jahrzehnte bestätigten.

Aehnlich ist der Eindruck, den der Leser von Hermann Brochs letztem Buch empfängt. Von einem geschlossenen Werk kann man bei den „Schuldlosen“ kaum sprechen. Zu fünf Erzählungen aus den Jahren 1917 bis 1934 hat Broch nämlich im Jahre 1949 sechs weitere gefügt, und die Klammern, Brücken und Kanäle, mit denen sie verbunden sind, wirken recht künstlich. Eine rabbinische Fabel steht als Einleitung, lyrische Passagen („Stimmen“) verbinden die drei Gruppen, die — analog zu den „Schlafwandlern“ — mit den Jahren 1913, 1923 und 1933 bezeichnet sind. Gegenstand aller dieser Typen und. Vorgänge ist die Ich-Auflösung, der Wertzerfall und die Entartung des Menschen ins Funktionelle, wie sie auch von Freud und Kafka, Kierkegaard und Joyce dargestellt wurden.

Auch dieses Buch Brochs ist eines des ethischen' Engagements, zu dem sich der Autor in einem vor kurzem erschienenen Essayband bekannte: „Immer war es der Standpunkt des Künstlers, gut und nicht sehen zu arbeiten; wer auf Schönheit hinarbeitete, war zu allen Zeiten \on vornherein dem Kitsch verfallen ... Es hat das Kunstwerk ohne ethisches Ziel keine Geltung mehr, es ist dem Dichter endgültig untersagt, frisch drauflos zu dichten, ein Poet und sonst nichts...“ Auch die Romanform, meint Broch, sei durch Joyce erschöpft, ja überschritten worden, und soziologisch, schreibt Broch an George Saiko, sei das „gute Buch“ eine Sommerfrischenangelegenheit der bürgerlichen Frau gewesen, habe also keine Funktion mehr. In einem Nachwort zu den „Schuldlosen“ hat Broch sich selbst interpretiert und ausgeführt, daß die Typen seines Romans, der die Zeit unmittelbar vor Hitler schildert, durchaus „unpolitisch“ seien. Soweit sie überhaupt politische Ideen haben, schweben sie durchaus im Nebelhaften und Vagen. Keiner von ihnen war an der Katastrophe unmittelbar schuldig oder auch nur direkt beteiligt. Aber da aus politischer Gleichgültigkeit und Desorientiertheit oft auch ethische Indifferenz entsteht, sind diese Menschen alle tief verstrickt in ethische Schuld. Die Schuld der Schuldlosen wird analysiert in der dunklen, triebhaften Sphäre und in der ethischreligiösen. Nirgends, meint Broch, sei diese Art von „Schuldlosigkeit“ so sichtbar' wie beim Spießer. Wohl deshalb stehen im Schwerpunkt des Buches die „Vier Reden des Studienrates Zacharias“, die allein ein Buch lesenswert machen, das mit seiner Vielschichtigkeit, mit seinen unerfreulichen, engstirnigen, hemmungslosen und verkrampften Typen, seiner vexierbildhaften Anlage, mit seinen Kraßheiten und seiner künstlichen Konstruktion ein Maximum von gutem Willen und höchste Aufmerksamkeit vom Leser fordert.

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