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Ratio und Mythos

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Im Schaffen Hermann Brochs bedeuten Ratio und Mythos zwei Pole in einem schmerzlich erlebten Spannungsverhältnis, das den Dichter und Denker Hermann Broch zwischen Dichtung und Wissenschaft hin und her warf: das Mißtrauen gegenüber der Ratio trieb ihn dem Mythos in die Arme — und umgekehrt. Die beiden Begriffe umschreiben auch zugleich weltanschauliche Probleme. — Denn dieser unruhige Geist, dieser Dynamiker des Denkens, war ständig auf der Suche nach Gott.

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Im Schaffen Hermann Brochs bedeuten Ratio und Mythos zwei Pole in einem schmerzlich erlebten Spannungsverhältnis, das den Dichter und Denker Hermann Broch zwischen Dichtung und Wissenschaft hin und her warf: das Mißtrauen gegenüber der Ratio trieb ihn dem Mythos in die Arme — und umgekehrt. Die beiden Begriffe umschreiben auch zugleich weltanschauliche Probleme. — Denn dieser unruhige Geist, dieser Dynamiker des Denkens, war ständig auf der Suche nach Gott.

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Broch war kein von außen her empfangender, sondern von innen her nach außen lebender Geist. Sein Leben ist daher für sein Werk wenig aufschlußreich. Hermann Broch wurde 1886 in Wien als Sohn eines aus Mähren eingewanderten Textil-faferikanten geboren. Er studierte an der Technischen Hochschule in Wien und an der Textilhoch&cbule in MüMbausen (Elsaß), absolvierte die praktische Lehrzeit in deutschen und böhmischen Fabriken und bereiste anschließend Amerika. Dann arbeitete er in der väterlichen Firma, brachte es bald zum Direktor und zum Präsidenten des österreichischen Industriellenverbandes. Außerdem war er Mitglied des österreichischen Gewerbegerichtes und arbeitete leitend bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit. Diese Tätigkeit vermittelte ihm einen Anschauungsunterricht zu seinen Gedanken über Massenpsychologie und Probleme der politischen Massenbewegungen, für die er sich schon seit längerem stark interessierte.

Diese wissenschaftlichen Interessen wurden so übermächtig in ihm, daß er eines Tages abrupt auf seine Laufbahn im wirtschaf-tlichen und politischen Leben verzichtete. 1927 löste er sich von allen Verpflichtungen und begann bei Moritz Schlick an der Wiener Universität Philosophie und bei Karl Bühler Psychologie zu studieren. Nebenher hörte er auch Vorlesungen über Mathematik. Doch schloß er seine Studien nicht mit dem Doktorat ab, da ihn die positivistische Richtung insbesondere Schlicks nicht befriedigte. Die Enttäuschung über die Wissenschaft führte ihn zur Dichtung. Von 1928 bis 1932 entstand seine Romiantrilogie „Die Schlafwandler“. Hier wollte er den Zerfall des demokratischen Europa im Zeitraum der letzten dreißig Jahre schildern, konkretisiert im Zerfall seiner Werte.

Der aus einer Radio-Geschichte nach und nach entstandene Roman „Der Tod des Vergü“ stand bereits im Schatten der immer prekärer werdenden politischen Situation. Ver-gil wurde zur Symihaifigur für den durch Bürgerkrieg, Diktatur und Rassenhaß bedrängten europäischen Menschen — und Broch mußte das bald am eigenen Leibe verspüren.

1938 wurde er in Alt-Aussee verhaftet. Hier schrieb er dieses Werk, in unmittelbarer Lebensgefahr schwebend, als eine Dichtung der Auseinandersetzung mit dem Tod. Sie ist weniger ein Roman als ein großartiger Monolog, der Monolog des Dichters Broch in der seelenverwandten Gestalt des Vergil, gerichtet an die Schlafwandler der Zeit und — überzeugt davon, nicht gehört zu werden. In dem beschwörenden Melos der Sprache schwingt die Ahnung des nahen Todes mit, wir hören gleichsam den Wellenschlag des Acheron, über den der Nachen Vergil in die Unterwelt tragen wird, für den Bnundisium die letzte Station seines Lebens wurde — wie für Broch Amerika.

Dieses Werk ist der Abgesang einer ganzen Kultur, einer humanitären Haltung, einer österreichischen und europäischen Tradition liberalen Bürgertums und seiner Denkweise. Die Form ist der innere Monolog, den Broch — freilich gemäßigt und auf konziliantere, österreichische Art variiert — von Joyces „Ulysses“ übernahm. Es ist die Form einer weltanschaulichen Immanenz, in der der Mensch abgeschlossen und auf sich selbst zurückgeworfen ist, ohne die Partnerschaft Gottes. Hineingestellt in diesen inneren Monolog ist der Konflikt des Dichters mit seinem Werk: Vergil will die Änei's vernichten, weil sie als Dichtung nicht zu jener Verbindlichkeit aufsteigt, die dem Menschen in der Wissenschaft, vor allem in der Mathematik zuteil wird. Dichtung ist eben nur ein Suchen nach der Erkenntnis, ohne — wie Broch sagt — „Erkenntnis zu sein“.

Damit ist auf die eingangs erwähnte schmerzliche Spannung zwischen dem Dichter und dem Wissenschaftler Broch verwiesen. Sie überschneidet sich mit dem Mißtrauen Brochs gegenüber dem Rationalismus. Er meint gerade bei der Betrachtung des politischen Massen-waihns seiner Zeit eine tiefe Krise des Rationalismus zu sehen, in der wir alle stecken und die uns in den Zustand des „Schlafwandelns“ gebracht hat, eine Art von Dämmerzustand, in denn die animalischen Triebkräfte gegenüber denen des Geistes, des Intellekts, überwiegen. Es gibt also nur die Vernunft als Gegengewicht gegenüber dem Trieb, der Physis.

Kann man auf dieser Basis ein System allgemein-menschlicher Verbindlichkeiten aufbauen? Auf der Suche danach faszinierte Broch die strenge Logik und Abstraktion der Mathematik. In ihren Gesetzen meint er die objektive Wahrheit gefunden zu haben, der die ganze Menschheit unterworfen ist. Ist aber eine solche letzte, lagische Klarheit der Erkenntnis, ein solches Fortschreiten zur allgemein-verbindlichen Wahrheit auch in der Dichtung möglich? Brochs dichterisches Werk ist eine Manifestation zu der Bemühung, eine Antwort auf diese Frage zu finden.

In seinen letzten Lebensjähren hatte sich Broch ganz auf die Aufgabe konzentriert, die er sich als Dichter gestellt hatte: Zeugnis abzulegen für eine verbindliche Gesetzlichkeit im menschlichen Dasein. Daneben läuft die Absicht, dem Massenwahn des Totalitarismus entgegenzuarbeiten, die Menschen, die „Schlafwandler“, aufzurütteln aus einer Gleichgültigkeit, die an sich schon Schuld ist, Urschuld unserer Gegenwart, durch die unsere scheinbar so geordnete Zivilisationsgesell-scbaft zu einem Inferno geworden ist und wieder werden kann. Diese Bestrebungen wirkten im sogenannten „Bergroman“ zusammen, einem Romanfragment, in dem Brochs eigentliches Hauptwerk zu sehen ist.

Broch hatte sich 1938 mit Hilfe amerikanischer Freunde der Gewalt des Natlionialsazialismus entziehen können und in Amerika ein Asyl gefunden, wo er u. a, auch mit Einstein in Verbindung stand. Hier schuf er eine neue, dritte Fassung des Bergromans, die er nicht mehr vollendete. Der Herausgeber Felix Stös-singer hat die drei Fassungen zusammengesetzt, so daß sich ein gewisser Abschluß ergibt, und dem Roman nach seiner Hauptgestalt, dem Marius Ratti, den Titel „Der Versucher“ gegeben.

Die Gestalt ist als Porträt eines manischen Technikers der Gewalt, also eines allen politischen Zeitbezuges entkleideten Hitler zu verstehen, der sozusagen auf den klinischen Befund des geistig Gestörten zurückgeschraubt ist. Dennoch wirkt Marius Ratti auf seine Umgebung wie ein Zauberer, wie ein unwiderstehlicher Verführer. Diese Umgebung ist ein Alpendorf, in das er als Landstreicher gespült wird. Zunächst wirkli er wie ein harmloser Narr, Naturapostel und Goldsucher, dann als verstiegener Maschinenstürmer, schließlich als Anstifter eines Ritualmordes. Dabei steht ein heidnischmystischer Glaube an eine menschliche Wiedergeburt durch Verzicht auf Industrie und Technik, Handel, städtische Lebensformen usw. im Hintergrund. Den Intellekt, die Ratio verdammt er zugunsten eines unkontrollierbaren Naturgefühls, eines Rousseauismuis. Mit diesen Ideen beginnt Marius Ratti nun seine Umgebung zu bearbeiten. Die scheinbar so nüchternen, derben, unzugänglichen Bauern werden von ihm förmlich behext, sie verfallen ihm, sie werden von ihm. zu einer rauschihaf-ten Triebhaftigkeit hingerissen, für die altes Brauchtum heidnischen Ursprungs die Formen hergibt. Daneben nützt Marius alles für sich, was in diesem Bauerntum an Bösem schlummert: Neid und Rivalität, Profitgier, Genußsucht — alles das lockt er hervor mit dem unbewiesenen Gefasel von einem Schatz im Berg, der nie gefunden, nicht einmal ernstlich gesucht, sondern nur „geglaubt“ wird, also nur als Biawegungsmotor zum Bösen hin wirkt. Das alles steigert Marius bis zur orgiastischen Katastrophe der Opferung eines jungen Mädchens, das selbst so im Massenwahn verstrickt ist, daß es sich selbst als Opfer anbietet.

Von dem Geschehen erfahren wir durch die Mittlerfunktion eines Er-zälhlers, des Dorfarztes, hinter dessen Maske sich der Dichter selbst verbirgt. Zug um Zug enthüllt sich ihm das dämonische Geschehen, die Verführung der Schwachen und Haltlosen, wobei er eher als schaudernder und machtloser Zeitgenosse, denn als ein Gegenspieler au betrachten ist.

Auch die zweite Hauptgestalt des Buches, die Mutter Gisson, ist handlungsmäßig nicht als Gegenspielerin des Marius Ratti anzusehen. Sie symbolisiert vielmehr den zweiten Weg der Erkenntnis, den uns neben der Ratio nur die Dichtung erschließt: den Mythos. In ihm wurzelt die uralte Bäuerin, eine Verwesent-licbung des Menschentums an sich, in dem die Kräfte der Natur, des Werdens und Vergehens sichtbar werden, das allen Menschen Verbindliche an Lebenserfahrung, Weisheit des Menschengeschlechtes. Mutter Gisson führt in den fruchtbaren Urgrund des Seins, in das schöpferische Reich der Mütter des „Faust“, ini die Urgemeinsamkeiten alles Menschlichen. Auch Thomas Mann war in seinen Joseph-Romanen auf dem Wege zum Typisch-Menschlichen, zu Urgesetzen menschlichen Verhaltens, aber er stand zugleich ironisch über ihnen, während Broch sozusagen gläubig-hingerissen in sie eindringt. Sie sind es, die als Gegenpol zur Ratio im Mythos sichtbar werden.

Broch bereichert nun die Dichtung mit der Fähigkeit, in das Reich des Mythos hinabzusteigen, daß sie auf anderem Wege als die Vernunft, als die Erkenntnis durch die Wissenschaft, von dem der Menschheit Gemeinsamen, von dem allen Menschen Verbindlichen künde. Moral und Religion sind nichts anderes als solche allgemein-imenschliche Verbindlichkeiten. Broch drückt das in seinem Roman aus: „... denn Sitte ist unverkäuflich: urzeitilich ist sie, dem Kreatürlichen, nicht zuletzt dem Magen unmittelbar verhaftet, urzeitlich das Osterbrot, älter als die Osteran-dacht, zu der ich mich begab, urzeitlich der Beginn des Humanen, eingebettet in die Landschaft, bestimmt vom Dienst an ihr, vom Dienst des Ackerns, Säens und Erntens, eingebettet darin, weil auch das Humane, weil auch die Sitte wachsender Kreislauf ist...“

Der Mensch kann sich also immer nur in sich selbst versenken, in den kosmischen Urgrund des Lebens, dorthin, wo die einzelnen Individualitäten des Menschseins in das eine Strombett, den gemeinsamen Urgrund des Lebendigen zusammenfließen, dorthin, wo Wesen und Mitte der Menschheit liegt. ,,Ich habe gelernt, daß ich nicht zum Ende hinschauen soll“, läßt Broch seine Mutter Gisson sagen, „wenn ich es sehen will, sondern in die Mitte, und die ist da, wo das Herz ist... Ja, so stark ist die Mitte, daß sie über den Anfang und das Ende hinausreicht, daß sie hineinreicht in das, was dunkel ist, und was die Menschen fürchten, weil sie dort nichts sehen als das Nichts und die Finsternis...“

Brochs geistige Landschalt eröffnet uns eine Region, in der die Realität nicht aufgehoben ist, sondern die Wirklichkeit nur zu einer tieferen Wirklichkeit wird, zu einer Wirklichkeit, die der erfahrbaren Wirklichkeit zugrundeliegt. In diese Wirklichkeit will Brochs Dichtung vorstoßen, oder vielmehr zu dem archimedischen Punkt gelangen, in dem Dichtung und Wissenschaft, Ratio und Mythos zusammenfallen. Er hat ihn nie gefunden, wenn auch die Zeugnisse seiner Suche nach ihm, seine Werke, achtunggebietend sind. Er war immer auf der Suche, bis ihm der Tod ein Halt gebot.

Und das Leben? Lag es als Erfahrung zugrunde? Der Ausgangspunkt für das Werk Brochs liegt in seinem Denken, nicht in seinem Leben. Das Leben bestätigte ihm nur das Vorgedachte, aber es verweigerte sich gleichzeitig dem gestaltenden Denker. Sehen, Voraussehen müssen, aber nicht aufhalten, verhindern können — darin liegt die tragische Rolle dieses Dichters in seiner Zeit, einer Zeit der Umbrüche, der tragischen Untergänge, die das Grauen der Apokalypse vorwegnahmen. So sah und spiegelte sich Broch in seinem Vergil. Denn auch Vergil, der „Vater des Abendlandes“, wurde in einen Untergang hineingeboren. Sein Leben und Wirken ist, wie es Theodor Haecker in seinem Vergilbuch sagte, ein „Stehen zwischen den Zeiten“. In diesem Sinne ist der Monolog Broch-Vergil in eine Zwischenzeit hineingesprochen, an die Schlafwandler gerichtet, die das Wort vielleicht doch noch wecken kann, das Wort eines Dichters, der in seinem eigenen Sterben den Tod seiner Zeit vorwegnimmt und zugleich eine kommende Zeit erhofft und fürchtet. Dieses Wort, von dem es in den letzten Zeilen des „Tod des Vergil“ heißt: „ ... die mild-fruchtbare Herrlichkeit des menschlichen Loses, gezeugt vom Worte und in der Zeugung schon des Wortes Sinn, des Wortes Trost, des Wortes Gnade, des Wortes Fürsprache, des Wortes Erlösungsstärke, des Wortes Gesetzeskraft, des Wortes Widergeburt, nochmals ausgedrückt und ausdrückbar in den unzulänglichen und doch allein noch zugänglichen irdischen Bildern menschlichen Tuns' und Wandeins, in ihnen verkündet und bewahrt und wiederholt für immerdar.“ Es ist das Brochs größte Annäherung an den Gott-Logos des Prologs im Johannes-Evangelium: „Am Anfang war das Wort.“

Broch verbindet hier den alttestamentarischen Glauben an das allmächtige Wort des Gott-Logos mit dem Glauben des deutschen Idealismus, die Welt vom Menschengeist her, der sich im Wort ausdrückt, zu gestalten. Das war der Auftrag Ver-gils, das ist die Botschaft Hermann Brochs im Untergang der alten und an der Schwelle einer neuen Zeit Werden die Schlafwandler sie hören?

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