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Romanwelt als Modell

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Der Versucher, Roman. Von Hermann Broch. Gesammelte Werke, 4. Band. Rhein-Verlag, Zürich 598 Seiten. Preis 19.80 sfr

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Der Versucher, Roman. Von Hermann Broch. Gesammelte Werke, 4. Band. Rhein-Verlag, Zürich 598 Seiten. Preis 19.80 sfr

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Ein geistiges Unternehmen wie diesen Roman zu „kritisieren", ist schlechthin unmöglich, gleichgültig, ob man ės als literarische Offenbarung begrüßt oder als vollendetes Musterbeispiel künstlicher Kunst bedauern will. Fühle man sich nun von dem eigenartigen Werk angezogen, unberührt oder gar abgestoßen, jedenfalls fühlt man, der Autor habe alle diese Reaktionsmöglichkeiten bei der Abfassung schon genau miterwogen und könne durch keine Art von Zustimmung oder Ablehnung mehr ergänzt werden. Aber man kann sich mit dem Buch auseinahdersetzen, man kann dazu etwas sagen.

Kritisieren läßt sich nur der Titel, weil er nicht von Broch stammt. Dieser scheint sich über einen endgültigen Namen für seine Arbeit noch nicht schlüssig gewesen Zu sein. Freilich, „Demeter oder die Verzauberung", wie er sie gelegentlich nannte, dürfte weit besser, Broch-hafter sein. „Er war mythologisch nicht haltbar und entspricht nicht Mutter Gissons Erscheinung", argumentierte Felix Stossingėr gegen den Arbeitstitel in seinem 40 Seiten langen eindringlichen Nachwort. Aber es handelte sich ja nicht um eine wissenschaftliche Klassifikation, sondern um einen Romantitel, der noch dazu fortgesetzt wurde („oder die Verzauberung"), womit der streng mythologische Begriff verändert, modernisiert, zu einem mystischen Gefühlswert veredelt wäre. Viel schwerer als die Bedenken Felix Stössingers wiegt das Problem, wie es zu rechtfertigen sei, anstatt der Hauptfigur die Anti-Hauptfigur zur Titelgestalt zu er hä» en.

Dieser Tiroler Dorfroman (Broch sprach oft von einem „Berg"- oder auch ,,Gebirgs"roman) könnte statt auf 550 auch auf 55 Seiten gut erzählt werden. Der Unterschied zwischen der Originalfassung und der möglichen Kurzfassung wäre keine Angelegenheit der Breite, sondern eine der Tiefe. Man hat oft genug gesagt, daß das mystische Etwas, das ein Dichter zwischen die Worte legt, in sie legt, die Vokabel zum bedeutenden Begriff, den Bericht zur Aussage, das Werk zur Dichtung macht. „Hermann Broch ist ein Mystiker", sagt Felix Stossingėr. Allerdings ein dialektisch so selbstbewußter, daß er jenes mystische Etwas, das wir sonst zwichen und hinter den Worten eines Werkes der Sprachkunst zu suchen und zu finden gewohnt sind, nahezu vollständig in Worte faßt und genau ausdrückt. Seine Breite ist keine Thomas Mannsche Breite. Broch macht keine Pause; er beschreibt sie.

Damit ist das Buch, das eigentlich ohneweiters (dem roten Faden nach) zu kapieren wäre, zur Unpopularität verurteilt. Es ist zwar der Form nach ein sogar spannender und „anregender" Roman, essentiell aber ist es eine künstlerische Abhandlung, und zwar der allzu schweren Vollständigkeit halber. Es ist ein Roman samt philosophischer Interpretation; der Kommentar steht aber nicht in Fußnoten, er ist organisch mit dem Text der Handlung verwachsen.

Der langgestreckte Gebirgsort mit den gesellschaftlich unterschiedlichen Teilen Ober-- und Unter-Kuppron, der von einem plötzlich auftretenden fremden Wanderredner weltanschaulich erweckt und verwaltungsmäßig reformiert, kurzum durcheinandergebracht wird, diese erdachte kleine Ortschaft ist kein Symbol, sondern eher ein Modell der großen Welt. Denn das „Kunstwerk muß exemplifizierenden Gehalt haben, muß in seiner Einmaligkeit die Einheit und Universalität des Gesamtgeschehens aufweisen", wie Broch in einer „methodologischen Novelle" einmal erklärt hat. Die Frage, ob das Dichtung, ja ob Dichtung angesichts solcher intellektueller Neuformen heute überhaupt noch möglich ist, vor einem Buch von Broch aufwerfen, hieße Broch als Ganzen nicht kennen. Denn er hat das alles selber gefühlt, bedacht und erörtert, also vorweggenommen. Man kann ihn nicht kritisieren: selbst das befremdliche Ungefähr manches Sprachgebrauchs gehört merkwürdigerweise zu seiner Art (sogar die regelmäßige, ganz triviale Verwechslung von „hinten" mit „rückwärts"). Man kann das nur registrieren, man kann nur auf die Ungewöhnlichkeit größten Formats hinweisen. Ob es gefällt, ist Ansichtssache und ist beinahe gleichgültig.

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