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Träumer und Revolutionär

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Nachdem schon 1956 die Dichtungen Berthold Viertels von Ernst Ginsberg veröffentlicht wurden, bringt nun der Kösel-Verlag München auch die „Schriften zum Theater“ aus Viertels Nachlaß heraus. Das Geleitwort schrieb Herbert Ihering, der Viertel bereits seit 1914 kannte, als dieser als Dramaturg und Regisseur an der Volksbühne in Wien seine künstlerische Laufbahn begann. Im Anhang schneidet Gert Heidenreich das Problem an, warum Viertel nicht zu den offensichtlichen Repräsentanten der drei Jahrzehnte zwischen 1914 und 1933 zählt, wie etwa Max Reinhardt oder Leopold Jessner, der Direktor des Staatlichen Schauspielhauses in Berlin. Heidenreich führt dies darauf zurück, daß Viertel keine absolute, einheitlich übertragbare Regiekonzeption begründet hat, sondern versuchte, einen dem jeweiligen Stück individuell kongruenten Regiestil zu finden.

Dies mag größtenteils richtig gesehen sein, obwohl der Begriff Stücktreue gewisse Zweifel erweckt. Noch mehr erscheint mir die Tatsache, daß Viertel in den Zwanzigerjahren einer der Gründer des expressionistischen Regiestils war, als eine der Ursachen, warum Viertels Regieleistungen von damals in Vergessenheit gerieten, obwohl drr Expressionismus in jener Zeit auch im Theater groß in Mode stand. Doch die Blütezeit des Expressionismus ging bald vorüber. Was sagen uns heute noch Stücke wie „Haidebraut“ und „Erwachen“ von August Stramm, was Arnolt Bronnens „Vatermord“ oder Hasenclevers „Gobseck“. Über Viertels Inszenierung dieses Stückes bei der Dresdener Uraufführung im Jahre 1922 schrieb ein Kritiker: „Man sieht, daß Berthold Viertel als Spielleiter heute die gefährliche Gabe besitzt, auch das Niedrige bedeutend, mindestens verführerisch erscheinen zu lassen. Er ist in dieser Inszenierung durchaus der spielende, glänzende, herrschende Virtuos. Er freut sich der Macht über die Geister. Daß er nur der Eintagskunst hier dient, wird er wissen.“

Eine Parallele zur heutigen Regiekunst läßt sich unschwer herstellen. Der Revolutionär Viertel war immer modern und deshalb auch mehr dem Wandel der Mode unterworfen als andere. In Wien aber wird Viertel allen jenen unvergeßlich bleiben, die seine Tätigkeit als Regisseur an der Burg von 1949 bis 1953 verfolgen konnten. Seine Inszenierungen von Tennesee Williams „Die Glasmena-gerie“ und „Endstation Sehnsucht“, von Strindbergs „Die Kronbraut“ und Tschechows „Die Möwe“, Stücke, in denen Viertels Lieblingsschauspielerin Käthe Gold die Hauptrollen darstellte, büdeten mit die Grundlage, daß das Burgtheater trotz seines Exils im Ronacher damals unter der Direktion von Viertels Freund, Josef Gielen, eine Glanzzeit erlebte. Das vorliegende Buch bietet auf 477 Seiten eine ziemlich lückenlose Sammlung von Viertels Theaterschriften, von 1910 bis 1953, Viertels Todesjahr. Sie enthalten Gedanken und Urteile über Dichter, Dramen, Regisseure und Schauspieler, aber auch theoretische Erörterungen über Regieprobleme sowie mehrere Theaterkritiken. Außerdem ist dem Buch noch ein Verzeichnis der Inszenierungen Viertels beigefügt, die die stattliche Zahl 90 erreichen. Was Viertel über Karl Kraus, Tschechow, Georg Kaiser, Brecht, Ibsen, Gerhart Hauptmann, Karl Schönherr und Ferdinand Bruckner sagt, was über Tennesee Williams, Arthur Miller und Eugene O'Neill, ist auch heute noch interessant ebenso wie seine Bemerkungen über die Schauspieler Kortner, Jannimgs und Werner Krauss. Allerdings trägt alles den Stempel des Bruchstückhaften. Viertel war nämlich ein Ruheloser, ein Träumer und ein Revolutionär. Er führte selten ein Werk zu Ende. Nur auf dem Theater, wo er es nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gestalten zu tun hatte, die von Menschen dargestellt wurden, konnte er ein Vollender sein. Er dichtete das vom Autor nicht Gesagte oder nur Angedeutete weiter und brannte es seinen Darstellern ein. Viertel war ein Intellektueller mit Herz. Beides, die Klarheit des Denkens und die Anteilnahme am menschlichen Schicksal und Leiden, findet der Leser auch in Viertels Theaterschriften.

SCHRIFTEN ZUM THEATER von Berthold Viertel, Verlag Kösel, 574 Seiten. DM 32,—.

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