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Abtreibung im Spiegel der Statistik

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Es ist mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten, daß heftige Emotionen und einseitige Informationen in Deutschland die Szene beherrschen werden, wenn in nächster Zeit die parlamentarische Debatte um eine Reform des 218 (entspricht in Österreich dem 144) in ihr entscheidendes Stadium treten wird. Zum einen macht sich durch gezielte Propaganda geschürte Leidenschaft bemerkbar; zum anderen liegt dieses Phänomen darin begründet, daß verläßliche Zahlen und Informationen über die Rechtstatsachen, nur sehr schwer zugänglich sind. So tauchen in der öffentlichen und privaten Diskussion die abstrusesten Zahlen und Argumente auf; der Verwirrung ist kein Ende; Vermutungen und Mutmaßungen scheinen die exakte Tatsachenanalyse verdrängt zu haben.

Dies beginnt bereits bei der Frage nach der sogenannten „Dunkelziffer“, die bekanntlich die Differenz zwischen den tatsächlich begangenen Delikten und Tätern einerseits und den offiziell in der Polizeistatistik bekannt gewordenen Delikten und Tätern anderseits widerspiegelt. Einzeluntersuchungen liegen in ausreichendem Maß vor. Aber die Frage ist: Inwieweit sind diese auch repräsentativ?

Vielfach wird die Ansicht vertreten, die Zahl der kriminellen Aborte liege etwa bei 90 v. H. aller Fehlgeburten, oder es heißt, die Verhältniszahl zwischen Geborenen und Abtreibungen sei im Jahresdurchschnitt 1:1. Dies würde bedeuten, daß jährlich etwa 800.000 bis etwa 1,000.000 Abtreibungen allein in Deutschland vorgenommen würden.

Diese Zahl ist jedoch mit Sicherheit überhöht. Wie Siebel in seinem Buch „Soziologie der Abtreibung“ (Enke-Verlag, Stuttgart, 1971) gezeigt hat, würde dies bedeuten, daß von den 12 Millionen Frauen im Alter zwischen 15 und. 45 Jahren jede, .jn nihrem,- Leben ■mindestens zweimal eine Abtreibung erlebt hätte. Selbst wenn die Zahl bei 400.000 Abtreibungen jährlich liegt, dann hätte jede Frau in Deutschland einmal in ihrem Leben abgetrieben und sich nach geltendem Gesetz strafbar gemacht. Auch dies erscheint unwahrscheinlich.

Siebel hat in seiner eingehenden Untersuchung — als Gemeindeuntersuchung in den Städten Heilbronn und Trier durchgeführt — 3525 Fehlgeburten erfaßt, von denen nach näherer Kategorisierung mit hoher Wahrscheinlichkeit 55 v. H. kriminelle Aborte waren. Bezogen auf die beiden untersuchten Städte ergibt sich aus der Ärzte- und Krankenhausstatistik in Trier ein Anteil von 30 v. H. krimineller Aborte; in Heilbronn liegt er bei 60 v. H. Dies entspricht einem Mittel von 51 v. H. für die Zahl der Fehl-

geburten, die als kriminelle Aborte zu werten sind.

Aus der Analyse der Gerichtsakten in Heilbronn und Trier ergab sich weiter, daß 41 v. H. der durchgeführten Abtreibungen ohne Komplikationen verlaufen und deshalb in der Krankenhaus- und Ärztestatistik nicht erfaßt sind. Aus diesen Zahlen folgt: Unterstellt man als ziemlich sicher erwiesenen Mittelwert, daß etwa auf drei Lebendgeburten eine Fehlgeburt entfällt (Relation 0,33), so ergibt dies bei einer Geburtenzahl von rund 800.000 jährlich in Deutschland eine Zahl von etwa 270.000 für die Fehlgeburten. Von diesen sind ungefähr 55 v. H. als kriminelle Abtreibungen anzusehen (Krankenhaus- und Ärztestatistik), so daß sich 148.500 Abtreibungen jährlich ermitteln lassen. Rechnet man hinzu, daß, wie bereits erwähnt, 41 v. H. der Fehlgeburten komplikationslos verlaufen — also nicht in der Krankenhaus- oder Ärztestatistik erscheinen —, dann erhöht sich die Zahl der jährlichen Abtreibungen um etwa 111.000 auf rund 260.000. Siebel entscheidet sich nach eingehenden Untersuchungen für eine Zahl von „höchstwahrscheinlich unter 200.000“ (264).

Die vom Bundesjustizministerium mitgeteilte Polizeistatistik ist — mit einer Ausnahme, die sich durch das Auffinden einer Arztkartei erklärt

— seit 1953 ständig stark rückläufig. 1953 wurden noch 6555 Fälle erfaßt; 1969 waren es nur noch 1005, während für das Jahr 1970 771 Fälle genannt werden.

Die Zahl der Fälle, in denen der Täter geständig war oder durch Beweismittel überführt wurde (Gerichtsstatistik), ist naturgemäß noch geringer: Sie beträgt 1953 noch 5911 und sinkt bis 1969 auf 925.

Für den gleichen Zeitraum liegt die Zahl der Abtreibungstäter bei 7967 für das Jahr 1953 und bei 1150 im Jahr 1969; die höhere ^Zahl der Täter im Vergleich zu den statistisch erfaßten Delikten erklärt sich daraus, daß bei Fremdabtreibungen mitunter mehrere Täter beteiligt sind.

Als Abtreibungstäter (Fremdabtreibung) kommen nach Siebel folgende Gruppen in Betracht: 1. „ältere, medizinisch vorgebildete Frauen“, 2. „ältere, medizinisch ungebildete Männer“, 3. „Ärzte“ (219 f.). Alle üben die Abtreibung gewerbsmäßig aus. In Trier sind es vor allem Heilpraktiker, Hebammen und Hausfrauen. Auf Grund der geringeren Qualifikation liegen die Preise in Trier für eine Abtreibung in etwa 75 v. H. der Fälle unter 500 DM. Anders in Heilbronn: Dort dominiert

— infolge der gesellschaftlichen, religiösen und soziologischen Unterschiede gegenüber Trier — eindeutig der Arzt; allerdings spielt auch hier

— im völligen Gegensatz zu Trier —

„der ungebildete männliche Abtrei-ber“ eine nicht unwichtige Rolle, „dessen Gewinnsucht sich fast immer mit sexuellen Motiven verbindet“ (131).

Zahlenmäßig werden die meisten Abtreibungen von Ärzten durchgeführt; „Privatkliniken und Abtreibungsringe spielen dabei eine wich-

tige Rolle“ (132). Nach Ansicht des Bundesjustizministeriums wird die Abtreibung „überwiegend von Personen“ durchgeführt, „die den Eingriff technisch beherrschen“ (Bundestagsdrucksache VI/2025 vom 25. März 1971).

Als häufigst verwandte Methode kommt dabei nach Siebel — in Trier in 91 v. H., in Heilbronn in 66 v. H. der Fälle — die Einspritzung einer Seifenlauge, die Spülung mit Sagro-tan oder Wasser vor; dies gilt für die Fremdabtreibung und auch für die Selbstabtreibung. Der Eihautstich als Form der Abtreibung steht an zweiter Stelle der Häufigkeit; chemische Mittel — insbesondere von Chinin — wurden im Durchschnitt nur in 7 v. H. der Fälle verwandt.

Obwohl die Einspritzung von Flüssigkeiten in die Gebärmutter eine gar nicht ungefährliche Methode ist, sind nach den Erhebungen Siebeis im Durchschnitt der in Heilbronn und Trier erfaßten Abtreibungsfälle 41 v. H. ohne Komplikationen verlaufen; 19 v. H. der Fälle machten eine ambulante Ausschabung erforderlich, während in 25 v. H. die Ausschabung im Krankenhaus erfolgen mußte. Schwere Komplikationen traten in 4 v. H. der Fälle auf. Von den 370 erfaßten Abtreibungsfällen endeten drei tödlich.

Diese Zahlen entsprechen in etwa denen von Husslein, der in seiner Wiener Klinik ebenfalls Erhebungen anstellte. Nach ihm liegt der Prozentsatz der Gesundheitsschädigungen nach illegalem Abort bei rund 25 v. H. („Deutsches Ärzteblatt“ 32/71,-2249).

Auf Grund dieser Zahlen fällt eines der immer wieder verwandten Argumente zugunsten einer Reform des 218 StGB in sich zusammen. In der öffentlichen Debatte wird immer wieder mit den gleichen falschen Zahlen argumentiert: 15.000 bis 40.000 Tote infolge illegaler Abtreibungen bei „Kurpfuschern“ und „Engelmacherinnen“ pro Jahr und unabsehbare Gesundheitsschäden. Deshalb schon müsse 218 StGB ersatzlos gestrichen werden, lautet die Forderung. Was ist daran richtig?

Nichts. Denn im Durchschnitt der Jahre 1958 bis 1967 starben jährlich

13.600 Frauen, die altersmäßig an der Abtreibung hätten sterben können. Siebel referiert, daß in diesem Zeitraum pro Jahr 66 — das entspricht 5. v. H. aller Todesfälle — an Komplikationen in der Schwangerschaft, bei Entbindungen oder im Wochenbett starben. Selbst wenn man hinzunimmt, daß die Todes-

Ursache als Folge einer illegalen Abtreibung 'nicht immer zuverlässig angegeben werden dürfte, so daß die effektive Ziffer doch höher als 66 liegt, ist eine Todesziffer auf Grund kriminellen Abortes von „unter 500“ im Jahr realistisch.

Unter dem gleichen Vorbehalt der Zuverlässigkeit teilte das Bundesjustizministerium für 1967 mit, daß nur bei 42 Frauen als Todesursache „Fehlgeburt mit Sepsis“ angeführt wurde, was auf eine illegale Abtreibung schließen läßt; in 117 weiteren Fällen, die als Folgen illegaler Aborte theoretisch in Betracht kommen, wird als Todesursache „Komplikationen während der Schwangerschaft“ angegeben (Bundestagsdrucksache VI/2005 vom 25. März 1971).

Bei der Analyse der Motivationen der abtreibenden Frauen ergeben sich interessante Feststellungen, wobei naturgemäß die Motivlage bei verheirateten Frauen anders ist als bei ledigen. „Angst vor sozialen Sanktionen“ wurde bei ledigen Frauen in Trier in 35 v. H. der Fälle als ausschlaggebendes Motiv angeführt; in Heilbronn sind es 31 v. H. Auffallend ist jedoch, daß das Motiv „Angst vor Schande“, Angst vor einer unehelichen Geburt und dem damit verbundenen Makel in dem traditionsgebundenen, überwiegend katholischen Trier einen wesentlich höheren Stellenwert besitzt als im protestantischen, industrialisierten und liberaleren Heilbronn.

An zweiter Stelle der Motivation der ledigen Abtreiberinnen steht, daß sie, vom Schwängerer verlassen, keine Aussicht auf Heirat haben (Trier in 28 v. H, Heilbronn in 22 v. H. der Fälle). Das Drängen des Schwängerers sowie materielle Gründe sind in 20 v. H. bzw. 10 v. H. (Trier) und in 17 v. H. bzw. 16 v. H. (Heilbronn) maßgebende Motive. Vergewaltigung spielte nur in einem Fall (Heilbronn) eine Rolle.

Demgegenüber überwiegt bei den verheirateten Abtreiberinnen das Motiv der materiellen Not, zumal wenn man die Fälle hinzurechnet, in denen eine Schwangere deswegen abgetrieben hat, weil sie schon mehr als zwei Kinder hatte und die Ab-

treibung folglich als Mittel der „Geburtenplanung“ ansah. Dies sind für Trier 34 v. H. bzw. 12 v. H. und in Heilbronn 30 v. H. bzw. 18 v. H. An zweiter Stelle der Motivationsliste steht Zerrüttung der Ehe und außereheliche Schwangerschaft — in Trier 23. v. H, in Heilbronn 31 v. H.

Immer wieder wird behauptet, die Bestrafung nach 218 StGB habe ausgesprochenen „Klassencharakter“; nur die unteren Schichten würden von der Justiz erfaßt, die oberen dagegen würden — obwohl sie sich auch der Abtreibung schuldig machen — straflos ausgehen, haben sie doch vielfältige Mittel, Wege und Geld, sich der Bestrafung zu entziehen. Diese These wird durch eine Auswertung der Gerichtsakten von Heilbronn und Trier im auffallenden Maß bestätigt.

Der Anteil der ungelernten Arbeiterinnen und Angestellten liegt, gemessen an der Gesamtzahl der bestraften Abtreiberinnen, bei 24 v. H. (Trier) bzw. 21 v. H. (Heilbronn). Die Arbeiterinnen und Angestellten, die als gelernt eingestuft sind, machten 34 v. H. bzw. 30 v. H. aus. Am größten ist indessen der Anteil der Hausfrauen; er liegt in Trier bei 36 v. H. und in Heilbronn bei 30 v. H. Demgegenüber ist in Trier für den Zeitraum von 1950 bis 1967 nur eine Abtreiberin in der Kategorie „gehobene Angestellte“, „Beamtin“ registriert; in Heilbronn ist es keine einzige. In beiden Städten wurde indes keine „höhere Angestellte“ oder „Akademikerin“ gerichtlich belangt — und dies trotz 621 Ermittlungsverfahren in diesem Zeitraum, die zu 195 Hauptverfahren führten, während in 426 Fällen das Verfahren eingestellt wurde.

Dabei ergibt sich — und das ist insgesamt wichtig — zwischen Heilbronn und Trier ein beträchtlicher Unterschied: „In Heilbronn wird die Abtreibung gesellschaftlich mehr akzeptiert. Nicht nur wird sie dort von Ärzten durchgeführt, denen deshalb kaum allgemeine soziale Sanktionen, noch Sanktionen von Seiten des Ärzteverbandes drohen; sie wird auch als ein zulässiges Mittel der Geburtenkontrolle für den Fall einer wirtschaftlichen Notlage oder für den Fall; -ääß'8ie Schwangere bereits mehrere Kinder hat,' angesehen üiMT'wW Von' der Staatsanwaltschaft und den Kriminalbehörden wenig verfolgt.“

Anders in Trier: Hier „wird die Abtreibung juristisch und gesellschaftlich stärker abgelehnt. Höchstens einzelne, von ihren Standesgenossen gemiedene Ärzte führen sie durch. Im übrigen beherrschen Kurpfuscher, Krankenschwestern und ähnliche Dilettanten das Feld. Die Staatsanwaltschaft und die Polizei stellen bei Anzeigen genaue Ermittlungen an. Folglich ist auch die Gefahr der Bestrafung viel größer als in Heilbronn, wobei die Gefahr öffentlichen Ansehensverlustes im Fall einer gerichtlichen Verhandlung ausschlaggebend ist. Deshalb konzentrieren sich die Abtreibungsfälle mehr bei den untersten Schichten und den ledigen, die einer unehelichen Schwangerschaft entgehen wollen.“

Soziologisch folgt aus'diesem Befund eine wichtige Einsicht: Abtreibungshäufigkeit, Abtreibungsstruktur und Verfolgungsintensität sind vom Grad der Religiosität oder besser: der Säkularisierung abhängig. Je weiter die Industrialisierung und Verstädterung fortgeschritten ist (je geringer die allgemeinen religiösen und konservativen Verankerungen sind), um so risikoloser wird die Abtreibung, um so unwichtiger sind etwaige soziale Pressionen, 'um so risikoloser ist die Abtreibung für Fremdabtreiber, um so geringer ist die Gefahr einer strafgerichtlichen Verfolgung. Umgekehrt: Je religiöser, ländlicher, konservativer eine bestimmte Gruppe strukturiert ist, desto niedriger ist die Abtreibungsfrequenz, desto größer die Gefahr einer Verurteilung, desto höher das Risiko einer Gesundheitsschädigung durch Kurpfuscher. Siebel schließt daraus: „Die Gefahr einer rechtlichen Diskriminierung kleinstädti-scher,katholischer Bevölkerungsgruppen, besonders, soweit sie der Unterschicht angehören, ist damit unmittelbar gegeben“ (223).

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