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Janácek-Oper "Aus einem Totenhaus" in einer faszinierenden Festwochen-Produktion von Pierre Boulez und Patrice Chéreau.

Als "Jahrhundert-Ring" ist die Bayreuther Produktion von Richard Wagners Monumentalwerk Der Ring des Nibelungen in den Jahren 1976 bis 1980, dirigiert von Pierre Boulez und inszeniert von Patrice Chéreau, in die Opern-Rezeptionsgeschichte eingegangen, und von nicht weniger wegweisender Bedeutung für die Opernwelt war die Produktion von Alban Bergs Lulu in der durch Friedrich Cerha vervollständigten Fassung durch das gleiche Produktionsteam 1979 an der Pariser Oper. Erstaunlicherweise sind Patrice Chéreau und Pierre Boulez seit diesen "Marksteinen" der Operninterpretation nicht mehr für weitere Arbeiten zusammengekommen - bis zur jetzigen Neuproduktion von Leoš Janáceks Oper Aus einem Totenhaus im Theater an der Wien im Rahmen der Wiener Festwochen.

Ob ihre neue gemeinsame Arbeit auch dieses Mal als "legendär" in die Operngeschichte eingehen wird, muss eine offene Frage bleiben; ein höchst intensiver, spannender, in seiner hohen szenischen und musikalischen Qualität imponierender Opernabend war dem enthusiastisch jubelnden Premierenpublikum aber auf jeden Fall beschieden.

Aus einem Totenhaus, in Wien letztmals in den 1980er Jahren an der Volksoper Wien gezeigt, stellt Janáceks letzte, 1927/28 entstandene, erst nach dem Tod des Komponisten uraufgeführte Oper dar. Als Quelle diente ihm der 1861 erschienene Roman Aufzeichnungen aus einem Totenhaus von Fjodor Dostojewskij, der selbst als politischer Häftling in Sibirien inhaftiert war und in dem Roman seine Erlebnisse verarbeitete.

Die fast reine Männeroper (sieht man von einer Dirne ab und zumal der Rolle des Alej, die auch von Sopranen als Hosenrolle gesungen werden kann, hier aber mit einem Tenor - hervorragend Eric Stokloßa - besetzt war), hat weder eine zentrale Hauptpartie noch eine voranstrebende Handlung: aus der Masse der Strafgefangenen tauchen Individuen auf, erzählen von ihren Verbrechen und menschlichen Tragödien und verschwinden wieder in der Masse.

Eine große Herausforderung an jeden Regisseur, der sich aber Patrice Chéreau in bemerkenswerter Art gestellt hat: seine Inszenierung ist einerseits unspektakulär, andererseits aber so subtil und detailreich gearbeitet, dass man sich ihr nicht entziehen kann: nicht nur jeder der typenmäßig hervorragend besetzten Solisten besitzt individuelles Profil, auch der Chor und das Statisten-bzw. Schauspielerensemble ist nicht als Masse geführt, sondern als Gruppe eigenständiger Charaktere. Man begegnet zwar Mördern und Verbrechern, ist aber dennoch bewegt von deren Schicksalen - ganz nach dem Motto der Vorlage und der Oper: "In jeder Kreatur ein Funke Gottes".

Dazu das bedrückende Bühnenbild von Richard Peduzzi: dunkel kalte Betonwände, die sich verschieben lassen und mal einen weiteren oder engeren Blickwinkel freigeben: der Raum mag ein anderer sein, die triste, hoffnungslose Atmosphäre bleibt aber immer die gleiche und lässt doch aller Trostlosigkeit zum Trotz Raum für menschlich aufwühlende Gefühle. Doch nicht nur durch seine schauspielerische Leistung kann das hervorragende Ensemble überzeugen, sondern auch durch sängerische Qualität, allen voran - stellvertretend für alle - Olaf Bär als Gorjancikow, Stefan Margita als Luka Kuzmic, John Mark Ainsley als Skuratov und Gerd Grochowski als Šiškov.

Musik und Szene darf man bei dieser Produktion in keiner Weise trennen: die Aktionen auf der Bühne scheinen sich aus dem Musikfluss zu ergeben, werden ungemein durch Janáceks sprechende Orchesterbehandlung verstärkt und vertieft in ihrer Wirkung.

Die Deutung von Pierre Boulez, der erstmals eine Janácek-Oper dirigierte, am Pult des nur anfänglich leicht vagen, dann höchst intensiv musizierenden Mahler Chamber Orchestera, vereint analytische Detailarbeit der Partitur mit ungemeiner Klangwirkung: schroff und kantig klingt es aus dem Graben, dann aber auch wieder für kurze Momente wunderbar lyrisch und kantabel, wenn für kurze, schnell vergehende Momente sich für die Gefangenen Lichtblicke auftun.

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