Nur wer wagt, kann auch gewinnen

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Aribert Reimanns Zweiakter "Lear" setzte den musikalisch umjubelten Schlusspunkt der Musiktheaterproduktionen bei den Salzburger Festspielen. Versuch eines Resümees der Festspiele 2017 unter der neuen Intendanz von Markus Hinterhäuser.

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Aribert Reimanns Zweiakter "Lear" setzte den musikalisch umjubelten Schlusspunkt der Musiktheaterproduktionen bei den Salzburger Festspielen. Versuch eines Resümees der Festspiele 2017 unter der neuen Intendanz von Markus Hinterhäuser.

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Mussten deswegen zahlreiche Besucher auf der Bühne vor den Arkaden der Felsenreitschule sitzen, weil sie keinen Platz im Zuschauerraum fanden? Wollte Regisseur Simon Stone an das Ambiente elisabethanischer Theater erinnern, schließlich basiert Aribert Reimanns Zweiakter "Lear" auf Shakespeares gleichnamigem Stück? Spätestens als sie von der Security brutal aus ihren Sesseln verdrängt und in die Flucht getrieben werden, wird klar, dass Stone damit der Gesellschaft einen Spiegel vorhält, gleichzeitig das aktuelle Thema der durch die Politik unschuldig zu Flüchtlingen gewordenen Menschen aufgreift. Plastische Bilder, die der mehr im Schauspiel als in der Oper beheimatete Regisseur für eines der Meisterwerke der Moderne entwirft, das sich von Anfang an durchgesetzt hat.

Dabei ist Aribert Reimanns Musik alles andere als einfach, sondern stetig fordernd und komplex. Ganz wie es dem Sujet entspricht, an das sich andere erst gar nicht gewagt haben, wie Giuseppe Verdi. Auch Reimann stand Dietrich Fischer-Dieskaus Vorschlag einer "Lear"-Oper anfangs skeptisch gegenüber. Dass es dazu gekommen ist, ist ein Verdienst des Librettisten, Claus H. Henneberg. Er ließ sich zu diesem Textbuch nicht durch die übliche Übersetzung von Wolf Graf Baudissin inspirieren, sondern durch die ungleich theatralischere von Johann Joachim Eschenburg. Getreu Reimanns eigener Forderung an einen Opernkomponisten, nur einen Text zu vertonen, der das Geschehen auf das Wesentliche konzentriert und Personen mit klaren Physiognomien präsentiert, die sich musikalisch entsprechend charakterisieren lassen, hat ihm Henneberg diese Vorlage erstellt.

Höchstes Niveau

"Nie darf ein Moment des Äußerlichen einfließen, Plakatives muss vermieden werden", hat sich der Komponist, wie man seinen Notizen über die Werkentstehung entnehmen kann, vorgenommen und dies in einer auf expressiven Cluster, ausgeklügelten Zwölftonreihen, weiten Intervallen, starren Akkorden basierenden, mit brillanten Koloraturen und parallel laufenden Szenen kokettierenden Tonsprache fulminant umgesetzt. So unmittelbar und packend, dass bereits die Uraufführung bei den Münchner Opernfestspielen 1978 mit Fischer-Dieskau als überragendem Gestalter der Titelpartie zum großen Erfolg wurde.

Die Besetzung der bereits 29. Produktion dieses Zweiakters in Salzburg kann man sich besser nicht vorstellen: Voran Gerald Finley als mitreißend sein Schicksal zeichnender Lear, Evelyn Herlitzius und Gun-Brit Barkmin als die ihn aus Machtgier einlullenden und ins Verderben stürzenden Töchter Goneril und Regan sowie Anna Prohaska (mit der er im Finale hinter einem weißen Vorhang vereint ist) als ihm stets mit Liebe begegnende dritte Tochter Cordelia, was er anfangs nicht erkennen will. Nicht minder überzeugend erwiesen sich die übrigen Protagonisten, wie Lauri Vasars intensiver Gloster, Kai Wessels zeitweilig in die Identität des Tom wechselnder Edgar, Charles Workman als sein fies-intriganter Bruder Edmund, Michael Maertens als in einer goldenen Jacke auftretender, prägnanter Narr. Um die Aktualität des Stoffes zu betonen, treten die Protagonisten in heutiger Kleidung auf.

Höchstes Niveau auch im Orchestergraben, bei den mit differenziertester Klangkultur prunkenden Philharmonikern und der ebenfalls von Franz Welser-Möst zu einer außerordentlichen Leistung geführten Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor. Dem Jubel für die musikalische Seite dieser Produktion standen heftige Buhs für die Inszenierung gegenüber. Weil Stones Idee, den ersten Teil der Oper betont deftig zu schildern, sich im zweiten, nüchterner gezeichneten umso mehr auf die Personen zu konzentrieren, missfiel, manche Zutat, wie den im ersten Teil die Heide suggerierenden Blumenstreifen, Mickeymouse-Maske, Luftballone oder das Bett -ein Requisit, wie es aus Sellars "Titus"-Inszene noch gut in Erinnerung ist -als unpassend, gar sinnstörend empfunden wurde?

"Aus nichts wird nichts", antwortet Lear ganz zu Beginn, als Cordelia ihm zu wenig verdeutlicht, wie sehr sie ihn liebt. Man kann auch paraphrasierend sagen: Nur wer wagt, gewinnt. Und wohl aus dieser Überlegung erstand in Stones Inszene manches diskursiver, bunter, vor allem unerwarteter, wie es sich mancher vorgestellt hatte.

Diskussionen anregen

Aber hatte sich nicht Markus Hinterhäuser für sein erstes Salzburger Intendanten-Jahr - lässt man außer acht, dass er schon einmal, nach dem Abgang von Flimm einen Sommer die künstlerische Verantwortung der Festspiele hatte -einen Satz des von ihm hoch verehrten Luigi Nono als Herausforderung gestellt: "Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz"? Da ist es nur zu selbstverständlich, dass es ihm nicht allein um glanzvolle, sondern vor allem um zu Diskussionen anregende Aufführungen geht und er diese unter ein gemeinsames Motto stellt.

Zu neuen Ufern

Dass die Wahl auf das Thema Macht fiel, kam nicht von ungefähr. Denn will man -wie Hinterhäuser - einen neuen Mozart-Opern-Zyklus mit dessen später "La clemenza di Tito" beginnen, eröffnet sich eine solche Perspektive von selbst. Mit dem längst taxfrei-marktschreierisch zum "Klassik-Rebell" inthronisierten Teodor Currentzis wählte er noch dazu einen Dirigenten, dem man, wie einst Nikolaus Harnoncourt, zutraut, auch künftig ausgetretene Pfade zu meiden und zu neuen Ufern aufzubrechen. Ob und wie dieses Unterfangen ausgeht, werden die kommenden Jahre zeigen. Stück- wie Interpreten-Wahl waren jedenfalls unmissverständliche Statements.

Ebenso, dass Hinterhäuser das Macht-Thema im Musiktheater bis in die unmittelbare Gegenwart führte und dabei stets auf ungewöhnliche Konstellationen setzte. Wie die im Exil lebende iranische Filmemacherin Shirin Neshat für die von Riccardo Muti dirigierte "Aida"(der ersten seit Karajan bei den Festspielen) oder die -von heimischen wie ausländischen Kommentatoren ebenso unterschiedlich gesehene Zusammenarbeit - von Mariss Jansons und Andreas Kriegenburg für Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk". Dass damit zugleich geglückt ist, die führenden Verdi-und Schostakowitsch-Dirigenten (letzteren erstmals für eine Oper) nach Salzburg zu bringen, war ein zusätzliches Husarenstück. Und wenn es auch nicht neu ist, bildende Künstler für eine Opern-Regie zu gewinnen: ein so stimmiger, spannend erzählter "Wozzeck", wie ihn das Leading-Team Kentridge-Jurowski insgesamt vorzeigte, verdient gleichfalls das Prädikat außerordentlich.

"Es läuft gut", war schon zur Festspielhalbzeit von den Festspiel-Verantwortlichen zu hören. Die demnächst verlautbarten Zahlen werden es auch finanziell bestätigen. Und das Fazit? Festspiele auf diesem Niveau wünscht man sich auch in den kommenden Sommern an der Salzach.

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