Mit „Lulu“ beschlossen die Wiener Festwochen im Theater an der Wien ihre Alban-Berg-Opernretrospektive. Dem Dirigenten mangelte es an Gestaltungskraft, der Protagonistin, wiewohl stimmlich untadelig, an erotischer Ausstrahlung. Das übrige Ensemble überzeugte durchwegs – phänomenal aber geriet vor allem Peter Steins Regiearbeit.
Nach Lyon und Mailand, schließlich ist es eine Koproduktion mit den dortigen Opernhäusern, ist diese „Lulu“ in Wien gelandet. Gespielt wird – wie diesen Sommer in Salzburg – die von Friedrich Cerha hergestellte dreiaktige Fassung der unvollendet gebliebenen Oper. Das macht szenisch wie musikalisch Sinn. Nicht zuletzt wird damit auch die spiegelbildliche Konzeption der Zwischenspiele deutlich. Vor allem, wenn man die Interpretation auch darauf konzentriert, wie es diesmal nur zum Teil der Fall war.
Wenig Subtiles aus dem Orchestergraben
Daniele Gatti benötigte einige Anlaufzeit, um in Fahrt zu kommen. Im ersten Akt setzte er vor allem auf Lautstärke, ließ sich mehr von den wirkungssicheren Effekten der Partitur als den subtileren Möglichkeiten der Akustik des Theaters an der Wien inspirieren. Beinahe makellos die Korrespondenz zwischen der Bühne und dem engagiert seinen Part absolvierenden Mahler Chamber Orchestra im zweiten Akt. Auch wenn man sich so manches Detail von den Musikern hätte farbiger, dynamisch differenzierter vorstellen können. Das aber setzte eine mehrjährige Auseinandersetzung mit dieser Partitur voraus. Solches ist bei einem, immer wieder für neue Aufgaben engagierten Ensemble, das regelmäßig seine Mitglieder wechselt, wohl nicht zu erwarten. Überraschend der Spannungsabfall im dritten Akt. Was nicht an der Wahl der Tempi, aber an der gestalterischen Überzeugungskraft des Dirigenten lag. Er vermochte die Protagonisten offensichtlich von seinem Konzept nicht zu überzeugen.
Dabei wären sie dafür glänzend vorbereitet gewesen. Nicht nur, weil man ausschließlich Singschauspieler für die einzelnen Rollen ausgesucht hatte, sondern weil sie Peter Stein nicht Theater, sondern Musiktheater spielen ließ. Eine, wie man weiß, immer größere Seltenheit: dass Regisseure beim Musiktheater der Musik und nicht dem Theater den Primat einräumen, ohne damit die Bedeutung der Szene zu vergessen. Es war das eigentliche Ereignis dieses Abends: mit welcher Akribie und dennoch Natürlichkeit die Regie die einzelnen Protagonisten zeichnete, ihnen im wahrsten Wortsinn pralles Leben einhauchte, sie zum Spiegelbild einer Gesellschaft machte, wie es der Tierbändiger in seinem Prolog vorhersagt.
Souverän ordnete der Regisseur – er ließ sich bei der Wiederaufnahme wegen Auffassungsdifferenzen mit dem Dirigenten von Jean-Romain Vesperini vertreten – die hier vielfachen Lust- und Trauerspiele, ließ die Protagonisten ungeschminkt ihre Emotionen zeigen. Ferdinand Wögerbauer hatte ihm dafür ein so stilvolles wie aussagekräftiges Ambiente gebaut. Dabei rückte er im Mittelakt von den Vorgaben der Partitur insofern ab, als dieser nicht in deutscher Renaissance, sondern im dafür ungleich passenderen Jugendstil spielte. Und im ersten Bild des Finalaktes setzte er auf ein den Tod vorhersagendes Rot anstelle neutralen weißen Stucks.
Präzis gezeichnete Charaktere
Beinahe ohne Schwachstellen die Besetzung mit Natascha Petrinsky als Geschwitz, Magdalena Anna Hofmann, die nach ihrer überzeugenden Margret im „Wozzeck“ nun auch ideal die Partien des Gymnasiasten und Groom gestaltete, dem bühnenbeherrschenden Roman Sadnik in der Doppelrolle Maler/Neger, Stephen West, der in dieser Szenerie einmal auch die Persönlichkeit des Dr. Schön überzeugend ausspielen konnte und später als ebenso zielsicherer Jack the Ripper auftrat, sowie Thomas Piffka als Schöns elegisch intonierendem Sohn Alwa. Dazu Rudolf Rosen als markanter Tierbändiger/Athlet, der selbstverständlich in unterschiedlichste Charaktere schlüpfende Robert Wörle als skurriler Prinz, Kammerdiener, Marquis, Medizinalrat und Professor, Johann-Werner Prein als souveräner Theaterdirektor und Bankier, der 86-jährige Franz Mazura als brillanter asthmatischer Greis Schigolch. In einer konzertanten Aufführung wäre Laura Aikin eine ideale, weil mit allen vokalen Möglichkeiten aufwartende Lulu. Gestalterisch machte sie das Tierische ihrer Rolle zu zaghaft deutlich, zeigte nur ansatzweise, weshalb (nicht nur) Alwa in ihr ein „gewaltiges Andante der Wollust“ zu erkennen glaubt.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!