
Poetische Träumerei und harte Lebenswirklichkeit
Nicht nur märchenhaft sind neue Musiktheater-Produktionen in Wien: Tschaikowsky an der Volksoper, Caccini an der Kammeroper, Janáček am Musiktheater an der Wien und an der Staatsoper.
Nicht nur märchenhaft sind neue Musiktheater-Produktionen in Wien: Tschaikowsky an der Volksoper, Caccini an der Kammeroper, Janáček am Musiktheater an der Wien und an der Staatsoper.
Bunt und kahl zugleich geht’s zu in der ersten Regiearbeit von Lotte de Beer an ihrem neuen Haus, der Volksoper Wien. Das ist der Wahl der Stücke geschuldet. Beide von Tschaikowsky, beide am selben Tag – noch dazu mit mäßigem Erfolg – uraufgeführt, und zwar hintereinander: der Opern-Einakter „Jolanthe“ und das „Nussknacker“-Ballett. Lotte de Beer wählte einen anderen Weg. Sie verknüpft – bei beiden handelt es sich um Märchenstoffe – Oper und Ballett miteinander, schildert die „Jolanthe“-Handlung auf einer im Wesentlichen ohne Requisiten auskommenden, kahlen Bühne (Bühnenbild: Katrin Lea Tag). Die bunten Kostüme des „Nussknacker“, dessen populärste Melodien in „Jolanthe“ klug und geschmackvoll integriert sind, sorgten für Farbe, Bewegung und Schwung. Das war den tänzerischen Einlagen der Mitglieder des Wiener Staatsballetts (Choreografie: Andrey Kaydanovskiy) ebenso zu verdanken wie dem von Volksoper-Musikchef Omer Meir Wellber zu erstaunlicher Qualität geführten Volksopernorchester. Zweifellos galt Lotte de Beers vorrangiges Interesse bei dieser Produktion, die ausdrücklich auch für – wenngleich offensichtlich etwas reifere – Kinder gedacht ist, dem „Jolanthe“-Einakter. Dafür hätte man sich allerdings prägnantere Stimmen gewünscht – abgesehen von Stefan Cernys wortklarem König René und Olesya Golovneva als seine zuletzt doch das Augenlicht erlangende Tochter Jolanthe. Oft erweisen sich die ja schon vor Jahren ausgewählten Stücke als erstaunlich aktuell. Wie der Dreiakter „La Liberazione“ der ersten Berufskomponistin Francesca Caccini. Vor der Folie eines Kriegsgeschehens wird die Frage Pflicht oder Neigung abgehandelt. Konkret auf das Libretto bezogen: Hat sich Ruggerio als Soldat zu verdingen, wie es letztlich der Fall ist, oder darf er sich weiter seiner Liebe zu Alcina widmen? Im Übrigen: Es geht um Krieg in Europa. Näher am Puls der Zeit könnte man mit diesem Sujet, mit dem Stefan Herheim in der Kammeroper seine Intendanz am (neuerdings so bezeichneten) Musiktheater an der Wien gestartet hat, nicht sein. Folgerichtig ließ Ilaria Lanzino ihre von der Commedia dell’Arte inspirierte, unterschiedlich schlüssig ausgefallene Inszenierung in einem die kleine Bühne der Kammeroper noch verengenden, düsteren Panzer-Ambiente (Bühnenarchitektur: Martin Hickmann) spielen. Gesungen wurde auf gutem Niveau. Exzellenter erwies sich die instrumentale Seite dieser Wiener Erstaufführung, realisiert vom La Folia Barockorchester unter Clemens Flick. Dennoch: Es gibt besseres, aufregenderes Musiktheater aus dieser Zeit.
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