Das stille Leiden an der Last der Dinge

19451960198020002020

Messies haben ein Problem mit der Ordnung. Aber ab wann wird zwanghaftes Horten krankhaft? Einblicke in das Leben einer Betroffenen.

19451960198020002020

Messies haben ein Problem mit der Ordnung. Aber ab wann wird zwanghaftes Horten krankhaft? Einblicke in das Leben einer Betroffenen.

Werbung
Werbung
Werbung

Astrid Plank (Name von der Red. geändert), 60, und ich treffen uns nicht zum ersten Mal. Bereits vor vier Jahren erzählte sie mir über ihr Leben mit dem Messie-Syndrom. Die pensionierte Kindergartenpädagogin hatte damals noch zwei Wohnungen, ein Warenlager, einen Keller und einen Balkon mit Dingen vollgeräumt. Mittlerweile ist vieles passiert. Eine Erfolgsgeschichte von persönlichem Wachstum, Ermächtigung und Selbstwertsteigerung, also "Empowerment".

Nicht nur in Astrid Planks Privatleben ist viel passiert. Auch die Forschung zum sogenannten Messie-Syndrom hat sich weitergedreht. 2013 wurde das Messie-Syndrom als Teil der Zwangsstörungen in das psychiatrische Diagnosemanual DSM-5 aufgenommen. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Selbsthilfebewegung. Die US-Amerikanerin Sandra Felton hatte in den 1980er Jahren die Gruppe "Messies Anonymous" ins Leben gerufen. Der Zulauf war gewaltig.

Ähnlich erging es der Psychoanalytikerin Elisabeth Vykoukal, als sie im Jahr 2000 zwei Messie-Gruppen an der Wiener Sigmund Freud-Privatuniversität startete-eine für Angehörige, eine für Betroffene. Die Forschung steckte damals in den Kinderschuhen. "Wir haben mit unseren Patienten gelernt",erzählt Vykoukal im Rückblick. Bald schon wurde ein drittes Angebot ins Leben gerufen-wöchentliche Hausbesuche durch Studierende. Diese sollten den Betroffenen helfen, Ordnung und Struktur in ihre Besitzungen zu bringen. Wer die langjährige Expertin um eine Definition der Diagnose bittet, wird dennoch auf eine vorsichtige Haltung stoßen. Für sie ist das zwanghafte Sammeln mehr eine Lebensweise als eine Diagnose. "Als psychisches Leiden würde ich das Ganze nur bezeichnen, wenn das Alltagsleben massiv eingeschränkt ist. Wenn zum Beispiel Küche, Klo und Bad nicht mehr benutzbar sind",sagt Vykoukal. Rund 30.000 Personen in Österreich sind davon betroffen.

Angst vor Delogierung

Auch in Planks80-Quadratmeter-Gemeindewohnung im 20. Wiener Bezirk türmten sich lange Zeit Stapel von Zeitschriften und alle möglichen Sammlungen auf: "Knöpfe, Klopapierrollen, alte Auto-und Fahrradschläuche, Wollreste, et cetera", zählt sie ihre "Schätze" auf-"alles, was man als Kindergartenpädagogin zum Basteln verwenden kann." Die Möglichkeit, mit einem Studenten gemeinsam den eigenen Besitz zu verkleinern, kam für sie gerade rechtzeitig. Das Delogierungsschreiben von Wiener Wohnen stand bereits im Raum. Ein besorgter Nachbar hatte den komplett zugeräumten Balkon gemeldet. Ein feuerpolizeiliches Risiko.

Elisabeth Vykoukal weiß, dass solche Vorfälle typisch für eine Messie-Biographie sind. Das Problem würde in den meisten Fällen erst dann auffallen, wenn die Behörden darauf aufmerksam werden oder Angehörige Alarm schlagen. In Therapien würde das Thema häufig lange ausgespart. "Viele Klienten leiden darunter, dass ihre Lebensweise Verachtung, Geringschätzung und Abscheu erregt-warum sollten Sie darüber sprechen?"

Symbolhafte Störung

Auch Plank sprach lange nicht über ihre Wohnsituation. Erst in der Gruppe "outet" sie sich. "Hier bin ich wieder mit Menschen in Kontakt gekommen und konnte sie an meiner Welt teilhaben lassen." Wie bei vielen Messies waren auch bei Plank die Dinge zum Ersatz für enge Beziehungen geworden. "Die Materialfülle deutet aber auch darauf hin, dass Messies sich schwer damit tun, Grenzen zu respektieren",sagt Vykoukal. Häufig erstreckt sich diese Schwierigkeit ebenso ins Immaterielle. "Ich habe mir die Wohnung vollgeräumt und gleichzeitig jeden Tag so viele Termine ausgemacht, dass ich eigentlich nie fertig werden konnte",erzählt Plank. Erst mithilfe "ihres" Studenten hätte sie gelernt, Entscheidungen zu treffen, sich für oder gegen bestimmte Gegenstände zu entschließen.

Wer Plank reden hört, spürt, dass es sich hier um eine hart erkämpfte innere und äußere Freiheit handelt. "Die Symbolhaftigkeit der Störung verleitet möglicherweise zum raschen Handeln, aber darum geht es nicht", sagt Psychoanalytikerin Vykoukal. In der Behandlung von Messies ginge es um einen wertschätzenden Blick auf die Dinge und-ums Aushalten. Aushalten und hinschauen auf die "wahren" Themen, die oft weit zurückliegen.

PlankweißheutenachfünfjährigerEinzeltherapie, dass ihr die Dinge lange Zeit über schwere traumatische Erlebnisse in der Vergangenheit hinweg geholfen haben. Als sie zwölf Jahre alt war, erkrankte der Vater an Parkinson. Aufgrund mangelnder medizinischer Kenntnisse landete der Vater in der Psychiatrie-ein Schock für die Jugendliche, der auch die Familie zerriss. Die Mutter reagierte überfordert. Für Planks Pubertät blieb kein Platz mehr. Und dennoch schlug sich Plank tapfer in ihrem Leben durch, sie wurde begeisterte Kindergartenpädagogin, heiratete, bekam zwei Söhne. Das Sammeln begann erst, als wieder Schreckliches passierte.

Plank verlor ein Kind; der Mann, den sie als Lebensmenschen gesehen hatte, verließ sie. Es scheint, als ob in Plank der Entschluss gereift wäre, nie mehr von anderen abhängig zu sein. "Als ich einmal erlebte, dass ich während eines Regens nicht die richtige Größe an Gummistiefeln für meinen älteren Sohn zuhause hatten, kaufte ich Stiefel in jeder einzelnen Größe, und das zuweilen mehrmals",erzählt sie. Es gab nun ein Paar Gummistiefel in der Wohnung, eines im Garten, eines im Kofferraum des Autos. Die meisten wurden nie gebraucht, aber das Gefühl für den Notfall gerüstet zu sein, beruhigte sie.

Reste der Familiengeschichte

Dass Objekte in Not-oder Krisensituationen beruhigen können, weiß auch der Berliner Psychotherapeut Wolfgang Krüger, Autor des Buches "Die Geheimnisse der Großeltern" (2015). Für ihn ist das zwanghafte Sammeln kein individuelles Problem, sondern ein Generationenthema, das er mit einem Beispiel aus seiner Praxis illustriert: "Ich denke da zum Beispiel an eine Person, deren Großeltern im Krieg alles verloren. Sie waren sehr sparsam und konnten nichts wegwerfen. Diese Problematik hat sich auf die Enkelin übertragen, allerdings dermaßen verstärkt, dass diese ein Messie wurde." Hatte die Lebenshaltung der Großeltern in der Notzeit des Kriegs noch Sinn gemacht, folgte die Enkelin mit ihrem Verhalten einer unausgesprochen weitergegebenen Familiennorm.

Auch Plank weiß mittlerweile, dass sie Reste aus ihrer Familiengeschichte mitschleppt. Seit ihre 90-jährige Mutter dement ist, geht diese jeden Tag mehrmals Brot kaufen. Die Erinnerung an das lange Anstehen vor fast leeren Geschäften ist wieder da. Plank selbst hat es in der Zwischenzeit dennoch geschafft, Ordnung zu halten-in ihrer Wohnung und in ihrem Leben. 2014 gründete sie eine eigene Selbsthilfegruppe mit dem Namen "Loslassen lernen". "Seit ich selbst aktiv wurde, hatte ich keinen Rückfall mehr",sagt sie. Die Pensionistin besucht nun auch Kurse zum Thema Selbstwert und Kommunikation.

Wenn man Plank zuhört, ist gerade bei scheinbar unauffälligen Alltäglichkeiten die Wucht der Veränderung deutlich spürbar. Eine davon ist die Art, wie sie nun Entscheidungen trifft. "Ich muss nicht mehr jede Gruppe mitmachen",sagt Plank lachend. "Heute wähle ich mir einen Termin pro Tag aus und lasse mir immer einen Puffer für Unerwartetes."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung