"Ich habe so viel zu verlieren!"

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Eine glückliche Familie. Und dann die Papierschnitzel im Abfall mit den Worten "erotic boys". Eine Geschichte über Leben und Tod und die Liebe, die dazwischen lag. Im Zentrum dieses Dossiers steht die Geschichte einer mutigen Frau, die offen über ihren früheren Mann erzählen möchte; kein einfacher Schritt, denn ihr Mann hatte pädophile Neigungen. Es gibt wohl kaum einen menschlichen Abgrund, den wir mehr fürchten, und dennoch wird er nicht weniger bedrohlich, wenn wir nur verachten und wegschauen. Im Gegenteil. Ein Dossier, das nichts verharmlosen, nichts rechtfertigen, sondern ein differenzierteres Bild über das Böse im Menschen zeichnen will. Ein Dossier über das schlimmste Gefängnis, in dem der Mensch stecken kann: er selbst. Redaktion: Regine Bogensberger

Bronx, New York, Ende der 80er Jahre. Polizeisirenen heulen durch die Nacht. Eine Gruppe sozial Engagierter versucht, verwahrloste, drogenabhängige Kids von den tristen Straßen zu holen. Darunter schwer süchtige Sechsjährige, HIV-positive Kinder und Jugendliche; Aids, die neue Bedrohung, ist gerade das Thema der US-Metropole. Kinder, die niemand gewollt hat, verwahrlost, misshandelt, viele von ihnen auch sexuell missbraucht, schwer reparable Kinderseelen. Unter den Helfern ist auch Sabina, eine junge Österreicherin, die freiwillig das Straßenkinderprojekt unterstützt. Sie kümmert sich speziell um Aids-kranke Kinder. Auch dabei ist Stephen, ein Kanadier, der besonders gut mit Kindern umgehen kann, immer ruhig, immer Herr der Lage, oft derjenige, der am schnellsten einen Draht zu den schwierigsten Kids aufbaut. Die jungen freiwilligen Helfer sind zunächst engagierte Idealisten. Danach kommt die Ernüchterung.

Nach zwei Jahren in New York geht Sabina nach Wien zurück und kümmert sich um die "Bronx" von Wien. Sie wird Suchtberaterin. Doch die Bronx und all ihre dunklen Seitenstraßen holen sie bald wieder ein.

Es war ein rein zufälliger Besuch. Stephen, der junge Kanadier von damals, war auf Durchreise und machte Zwischenstopp in Wien. So sah sie ihn wieder, und dieses Mal verliebten sie sich. Er studierte Medizin und bekam wenig später einen Turnusplatz an der Harvard Medical School in Cambridge, Massachusetts. Eigentlich hatte sie genug von den USA gehabt und wollte nicht zurück, aber die Liebe war stärker. Sie heirateten, kurz darauf kam ihre Tochter Sara, zwei Jahre später ihr Sohn Simon zur Welt. Sie waren eine glückliche Familie.

Bis zu jenem Tag im Mai 1998, als der Traum zerbrach. Im Mistkübel entdeckte Sabina seltsame Papierschnipsel: Irgendetwas mit "boys". Sie pickte die Schnipsel feinsäuberlich aus dem Dreck, ging damit ins nahe Café, setzte die Teile herzklopfend zusammen. Da stand: "erotic boys". Und eine Internetadresse. Sie hatten sich erst vor Kurzem eine Internetverbindung ins Haus legen lassen. Etwas später tippte sie die Adresse ein und sah sich wieder in das Elend der Bronx zurückversetzt: nackte Buben; missbrauchte Kinder. Sie zwang sich, hinzuschauen.

Sabina konfrontierte ihren Mann wenig später mit ihrer Entdeckung. Als ihr fragender, irritierter Blick ihn traf, brach er innerlich zusammen. Stephen brach in Tränen aus, er rang nach Luft; er hatte noch nie darüber gesprochen, es war wie ein von ihm abgespaltenes Wesen, das nun plötzlich entdeckt schien. Die mächtige Fassade, die er errichtet hatte, war erstmals brüchig geworden, was dahinter lag, wollte er selbst niemals wahrhaben. Das ganze aufgestaute Leid brach aus ihm hervor:

Es fing an in der Pubertät, als er merkte, dass er sich zu Buben, um die zehn Jahre alt, hingezogen fühlte. Er wusste nicht, was er mit diesem schrägen Verlangen machen sollte. Es ging einfach nicht weg. Damals hatte er manchmal den Wunsch, in die Schule zu stürmen, alle niederzuschießen, so wütend war er auf die Welt. Er war nicht homosexuell, nicht bisexuell, nicht heterosexuell, er war ein Abschaum, so sah er sich und so würde ihn die Umwelt sehen; und weil nicht sein durfte, was aber immer stärker und wie eine Sucht in ihm wuchs, wurde es verdrängt, so gut es ging, bis es doch über ihn siegte. Er gab zu, bereits eine Beziehung zu einem Jugendlichen in Kanada gehabt zu haben, dieser sei aber schon 14 gewesen, als es zu sexuellen Handlungen kam, was nach kanadischem Recht nicht mehr strafbar war.

Da saßen sie nun, erzählt Sabina heute: "Ich bin ganz bei mir gewesen. Ich ließ es fürs Erste einfach so stehen. Ich nahm ihn nicht in den Arm. Es ist damals eine Welt für mich zusammengebrochen. Es ging uns bis dahin so gut als Paar, auch in unserer Sexualität."

Bis dahin hatte sie in Bezug auf pädophile Männer eine radikale Meinung gehabt: "Schwanz ab!" Zu viele missbrauchte Kinder hatte sie bereits gesehen. Und nun saß ihr eigener Mann ihr gegenüber, sie spürte seine enorme Scham, sein Leid, seine Verzweiflung, seine Angst, sie würde ihn nun verachten und mit den Kindern verlassen.

Sabina wollte für ihre Liebe, für ihre Familie kämpfen. Wenig später übersiedelte die ganze Familie für ein Jahr nach Wien, dies war schon länger geplant. Sabina drängte ihn, einen Therapeuten zu suchen. Stephen wehrte sich zunächst, er glaubte, sich unter Kontrolle zu haben. Doch er täuschte sich selbst, wie er seinem Tagebuch anvertraute: "Bitte versuchen Sie mir zu helfen. Ich habe so viel zu verlieren", schrieb er und richtete diese Bitte an seinen späteren Therapeuten, den Wiener Psychiater Alfred Springer.

Dann kam der Anruf aus Cambridge. Er war einer von sieben Ärzten weltweit, die in den Ausbildungslehrgang für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Harvard-University aufgenommen wurden. "Ich wollte nicht, dass er diese Ausbildung macht; das wäre, wie wenn ein Alkoholiker im Weinkeller arbeiten würde", blickt Sabina zurück. Sie war klar dagegen, er zögerte, Sabina seine Entscheidung mitzuteilen: Er wollte nach Harvard, sich beruflich weiterentwickeln und anerkannt sein, und auch die Nähe zu Buben haben, schrieb er in sein Tagebuch. "Damals waren die Kräfte in Harvard und all diese Eliten, die ihn förderten, noch stärker," sagt Sabina: "Das Jahr in Wien hat ihm gut getan. Er war bei den Kindern, er war ihnen ein fürsorglicher Vater." Zurück in Cambridge begann Stephen seine Top-Ausbildung in den elitärsten Kreisen namhafter Psychiater. Springer hatte Stephen eine intensive Psychoanalyse empfohlen, doch der angehende Kollege entschied sich zwar für einen erfahrenen Therapeuten, mit dem er aber in einem Gesprächssetting blieb. Nur so konnte er seine manipulative Gabe einsetzen, nur so aber blieben die tiefen ungeklärten Ursachen für seine Störung unberührt.

Die Zeit in Cambridge begann mit einer seltsamen Zuversicht. Stephen hatte ein älteres Paar kennengelernt, der Mann war ebenso Kinderpsychiater, der ihm anvertraute, auch pädophile Phantasien zu haben. Aber er habe es unter Kontrolle. Wenn Sabina wieder einmal voll Sorge war, beruhigte sie ihr Mann, es sei alles nicht so schlimm, dieser Freund habe es auch geschafft, der Rest sei ihr Problem allein, nicht seines. "Damals schlich sich eine Schrägheit ein, mein Bauchgefühl war aber immer richtig", erzählt die heute 41-Jährige. Sie ahnte, dass dieser Mann und Stephen sich etwas vormachten. Als sie später um ihr Leben kämpfte und bei diesen Leuten Hilfe suchte, erfuhr sie Ablehnung und Ignoranz.

Der Mann, der Kinder tötet

Doch trotz dieses demonstrativen Optimismus' wurde Stephen immer depressiver, begann zu trinken, nahm Anti-Depressiva. Irgendetwas stimmte einfach nicht. Nicht unweit ihres Einfamilienhauses wohnten auch Stephens Eltern, gebildete Leute der oberen Schicht. Wenn sie die Schwiegereltern besuchten, hatte Sabina das starke Gefühl, einer Antwort näher zu sein: auf das Warum. In Anwesenheit des dominanten Vaters war Stephen der eingeschüchterte Bub, der nur "Yes, Dad" von sich gab. Nur einmal wagte er es, den Eltern ernsthaft zu widersprechen. Es war nach einem Wochenende. Die Kinder hatten es bei den Großeltern verbracht.

Als die Kleinen wieder bei den Eltern waren, hatte Sara arge Albträume, und erzählte von einer Geschichte, die der Opa erzählt hatte, dass es einen bösen Mann gebe, der alle Kinder töten wolle.

Die Großeltern reagierten empört, als Sabina und Stephen den Großvater daraufhin ansprachen, was vorgefallen sei: Kinder würden doch oft was erfinden, warum dieser Zirkus, so die Antwort. Stephen wurde von den Eltern mit bösartigsten Vorwürfen überhäuft. "Bis heute steht dieses Ereignis ungelöst im Raum, bleibt die Person des Großvaters rätselhaft", meint Sabina.

Sie vermutet ein dunkles Geheimnis, das auf der Familie lastet. Auch Stephens Mutter wurde als Kind von ihrem Onkel missbraucht, hatte dies aber nie verarbeitet. Sie hatte nur Brüder, und hatte selbst drei Buben geboren. Die Ehe war konfliktreich, aber dennoch stand sie treu an der Seite ihres Mannes. Als Stephen geboren wurde, war sie enttäuscht, sie hatte sich so sehr ein Mädchen gewünscht. "Sie hatte nie akzeptiert, wie Stephen wirklich war und was er wirklich wollte. Schon als Kind hatte er sich nicht richtig gefühlt. Er war immer klüger als die anderen und fühlte sich nie dazugehörig und nie wie ein Kind." Später malte Stephen ein Bild von einem Traum, der ihn immer wieder quälte: Er selbst liegt nackt in der Badewanne, daneben der bedrohliche Vater, ein nackter Bub klettert durch das Fenster herein. Was das zu bedeuten hatte, wusste Sabina nicht, ebenso wenig konnte oder wollte es Stephen erklären. Eines aber wusste Sabina: Stephen war nicht als Pädophiler auf die Welt gekommen. Irgendetwas in dieser Familie war gehörig faul.

Und dann kam jener Tag im Oktober 2000. Sabina hatte Nachtdienst. Ihr österreichisches Au-pair-Mädchen hatte frei. Da rief Stephen verzweifelt an, Simon sei krank, er schreie und sei nicht zu beruhigen, sie solle doch auf der Heimfahrt Medikamente aus der Apotheke mitnehmen. Stark irritiert fuhr sie am nächsten Morgen nach Hause. Nach dem Frühstück, Stephen war schon gegangen, erzählte der damals dreijährige Simon der Mutter: "Der Papa ist böse. Der Papa hat meinen Penis verbrannt. Ich mag das nicht!" Simon zeigte der Mutter und dem Au-pair-Mädchen, was passiert war. Es gab für die Mutter keinen Zweifel: Stephen hatte den eigenen Sohn missbraucht. Er musste neben dem kleinen Buben masturbiert haben, während er den Penis des Kindes schüttelte.

"Der Papa ist böse"

Sabina war am Ende, sie konnte mit keiner professionellen Person darüber reden, sonst müsste diese eine Anzeige machen, wozu man in den USA bei Verdacht auf Kindesmissbrauch verpflichtet ist. Dann würde man ihr die Kinder bis zur Klärung der Sachlage wegnehmen. Stephen stritt die Tat vehement ab, warf ihr vor, ihre Ängste auf das Kind zu übertragen. Eines Nachts legte Stephen seine Hände um Sabinas Hals, er drückte nicht zu, in diesem Moment hatte sie das Gefühl, ein fremdes Wesen in ihm zu erkennen. Sie begriff, es ging nun um ihr Leben und das der Kinder. Es gab keine Alternative außer der Flucht. Sie und die Kinder verließen nicht nur einen Menschen, der ihnen Furchtbares angetan hatte, sondern einen, den sie liebten, der ihnen auch ein liebevoller Mann und Vater gewesen war. Die große Trauer über diesen Verlust kam erst später, als der Schock nachließ, als sie mit zwei Koffern in Wien gelandet waren, in einer anderen Welt. Sie hatte auch ihre gesamte materielle Basis verloren und lebte danach am Existenzminimum. Dazu kam die Angst, dass ihr niemand glauben würde, erzählt Sabina heute.

Sie zeigte ihren Ehemann an. Ein unglaublich schwieriger Schritt. "Man schämt sich so, es ist unerträglich, um wie viel schrecklicher muss diese Scham für Menschen erst sein, die pädophil sind." Der Wiener Kinderpsychiater Max Friedrich erstellte das Gutachten und kam zu dem Schluss, dass ein sexueller Missbrauch "nicht mit der für das Gericht notwendigen Sicherheit" festgestellt werden kann (siehe Artikel unten). Die Klage blieb ohne Konsequenz. Sabina fühlte sich ohnmächtig. Sie glaubte sich noch immer mit den Kräften der Psychiater-Community konfrontiert, die keinen Skandal in ihrem Berufsstand wollten.

In der Zwischenzeit hatte der enorme psychische Stress beinahe Sabinas Leben gekostet: Sie hatte einen Magendurchbruch erlitten. Als sie aus der Narkose erwachte, wusste sie, dass sie richtig gehandelt hatte. Später schlichen sich aber wieder Schuldgefühle ein.

Nur noch einmal sah sie Stephen, als er im November 2001 nach Wien kam. Es erfolgte die einvernehmliche Scheidung. Im Beisein einer neutralen Person traf der Vater seine Kinder, damals sechs und vier Jahre alt. Er entschuldigte sich bei ihnen, sollte er ihnen je weh getan haben. Er wurde nicht konkreter. "Da war er wieder professionell, da hat er viel gut gemacht."

Nach seiner Abreise telefonierten die Kinder jeden Sonntag mit ihm. Auch noch am Sonntag, dem 12. Jänner 2003; er erzählte, dass er angeln war. Alles ganz normal. Drei Tage später nahm Stephen sich das Leben.

"Ich gehöre eigentlich weg"

Stephens Eltern machten Sabina für den Tod ihres Sohnes verantwortlich. Es sei ein Brief von Sabinas Anwältin beim verstorbenen Sohn gefunden worden, in dem er aufgefordert wird, den nie bezahlen Alimentsforderungen endlich nachzukommen. Einen anderen Brief fanden sie allerdings nicht: den vom Gericht.

Erst im vergangenen Herbst erfuhr Sabina ein weiteres Stück der Wahrheit: Stephen hätte am 17. Jänner 2003 vor Gericht aussagen müssen. Ein Bub, sein ehemaliger Patient, hatte Stephen angeklagt, ihn sexuell missbraucht zu haben. Er war einer dieser Buben, die aus zerrütteten Familien kamen und Schutz gesucht hatten, deren sich Stephen annahm; als kompetenter, einfühlsamer, geschätzter Psychiater, aber auch als jemand, der ihn dann missbrauchen sollte. Scheinbar perfekt getarnt im weißen Mantel des übermächtigen Arztes.

Im vergangenen November sagte Sabina via Telefonkonferenz für den Buben aus, der nun endlich Anspruch auf Therapie hat. Seither haben die Großeltern jeden Kontakt abgebrochen. Sie bangen um ihren Ruf.

"Stephen hat einmal gesagt, wenn jemand seine Kinder missbrauchen würde, den würde er töten. Er wusste im Grunde immer, dass er eigentlich weggehört. Aber solange wir diesen Menschen nur den Tod wünschen, kommen wir nicht weiter", so Sabina: "Es muss einen geschützten Raum geben, wo selbst diese Menschen urteilsfrei über ihre Gefühle sprechen können. Nur so kann Heilung beginnen." Stephen war der Mann, den sie geliebt hat, trotz seiner massiven Störung, die aber nicht den ganzen Menschen ausmachte. Er war dennoch für seine Taten verantwortlich.

In ihm steckte eine enorme Sehnsucht nach seiner Kindheit. Es wurde eine grausame Sucht daraus. Er hat ein Kind gesucht, er hat im Grunde immer nur sich selbst gesucht.

Sabina und ihre Kinder haben es mit therapeutischer Hilfe geschafft, dieses Trauma zu verarbeiten. Die Namen der Familie wurden von der Redaktion geändert.

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