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Eine Welt ohne Herz

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Als Pamphletist weltberühmt wurde G. B. Shaw durch seinen im November 1914 im „New Statesman“ veröffentlichten Aufsatz „Der gesunde Menschenverstand im Kriege“. Im selben Jahr begann er „Heart-breakhouse“, seine „zornige Komödie“, zu schreiben, die er während des Krieges vollendete, aber erst nach dem Krieg veröffentlichte. Wer hatte damals schon Lust, dem gesunden Menschenverstand zu trauen? „Hous Herzenstod“ heißt es in der bedeutsamen Vorrede zu dem Stück, „ist nicht bloß der Name des Dramas, das dieser Vorrede folgt, es ist das verfeinerte, müßige Europa vor dem Krieg. Als das Stück begonnen wurde, war noch kein Schuß gefallen. Höchstens die Berufsdiplomaten und die sehr wenigen Interessenten, deren Steckenpferd die Außenpolitik ist, wußten, daß die Kanonen geladen waren“. Shaw befrachtete so das zwei- oder gar mehrdeutige Stück mit einer gehörigen Last Symbolik und entwarf zugleich ein realistisches Bild des unverwechselbaren englischen Gesellschaftsmilieus in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Er sagte England und meinte Europa. Das Haus des verschrobenen alten Kapitäns Shotover ist wie ein Schiff eingerichtet — ein Schiff ohne Kurs und ohne Steuermann, eine „Arche“, die in einem Garten gestrandet ist. Die hier als ungebetene Gäste zusammenkommen, weder heim- noch zueinander-finden, entlarven einander als Lügner, Heuchler und Egoisten. Sie führen das alberne Schauspiel eines Lebens auf, das keines ist: Frauen geben vor, zu lieben; Männer spielen Helden, Handelnde, Weltverbesserer. „Phantasie in russischer Manier über englische Themen“ nannte Shaw sein Stück im Untertitel, und wie bei Tschechow alles Erlebte in Worte zerfällt, wird auch hier alles zerredet — bis am Ende die ersten Bomben krachend niederfallen, Bomben eines — wie Shaw meinte — reinigenden Weltuntergangs. Die „zornige Komödie“ vom „Haus Herzenstod“ gehört durchaus in unsere Zeit und hat mittlerweile sogar wieder an Aktualität gewonnen. Wenn es aber schwer genug fällt, von heute her einen unverstellten Blick auf diese Komödie der Worte mit ihren sarkastischen Wahrheiten zu gewinnen, dann, weil ein Bruch zwischen ihrer realistischen Gesellschaftskritik und den fast absurd-gleichnishaften Momenten klafft, manches auch zeitbezüglich, also überholt ist. Aber das Stück hat „Rollen“, und so lohnt sich der Versuch, das in diesem Narrenhaus betriebene Spiel, den Menschen hinter der Pose ausfindig zu machen, auf der Bühne zum Erfolg zu führen.

Boy Gobert, als Regisseur, inszenierte im Akademietheater mit seinen prominenten Schauspielern eher eine perfekte und höchst amüsante Konversationskomödie. Vom Shaw-schen Unterton, von der Vision kommenden Unheils war kaum etwas zu merken. Ewald Baiser legte die ungeheure Figur des Kapitäns, der Sprengstoffe und Mordmaschinen erfindet, um die unwürdige Menschheit in die Luft zu sprengen, mehr auf schrullige Gemütlichkeit an; Käthe Gold, als seine Tochter Hesione, stammte vollends von Tschechow; Susi Nicoletti, als Lady Utterword, glänzte komödiantisch als hysterischer Vamp von Welt; Erika Pluhar verkörperte als Ellie Dünne (die erste, der „das Herz bricht“ und die sich alsogleich aus dem naiven in ein abgefeimtes Personellen verwandelt) im Sinne Shaws das neue England. Das Publikum hielt sich mehr an den witzigen Shaw und überhörte geflissentlich die verborgene Trauer unter der Oberfläche der munteren Dialoge.

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