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MEISTER DES PROTOKOLLS

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In den vergangenen Jahren gingen in die österreichisch“ Literaturgeschichte mehrere umfangreiche Werke ein, die in Geist und Denkungsart noch in der Monarchie wurzeln. Das Werk Albert Drachs ist anscheinend das letzte dieser Reihe. Alle diese Schriftsteller bescheinigen der österrei-chisch-ungarischen Monarchie eine überaus geordnete, recht wirksame, in einiger Hinsicht jedoch aufgeblähte Administration. Die Kommunikation innerhalb dieser Verwaltungsorganisation war das Schriftstück: die Akte, das Protokoll, der Erlaß. Die Sprache dieser Kommunikation heißt Amtsdeutsch.

Albert Drach bemächtigt sich des Protokolls und seiner Sprache mit eiserner Konsequenz und stellt sie in den Dienst aller nur möglichen und erdenklichen literarischen Gattungen. Die Merkmale dieses Amtsdeutsch, das der Autor als Rechtsanwalt in Kanzlei und Gerichtssaal kennengelernt hat, sind die Antithese von Recht und Wirklichkeit, Bestrafung und Sühne, Tatsache und Schuld. Die antithetische Struktur verrät sich in den gewundenen Satzkonstruktionen, die mittels vieler „Wiewohl“ , „Obgleich“ , „Zwar“ , „Zumal“ , „Aber geschachtelt sind. Ihr ursprüngliches Ziel war es, vorsichtig und, behitfsam die reine Feststellung des Tatsächlichen, und nichts .als diese, bewerkstelligen, .und zu kommunizieren, so, daß sie sich im Lauf des Protokolls, im sogenannten Amtsweg, nicht verändert, die Wirklichkeit des Vorfalls konstant weitergibt. Ihr haftet das Bewußtsein des Protokollführers an, daß es so etwas wie Tatsachen gar nicht gibt, daß im Endergebnis die Wirklichkeit sich der Protokollierung entzieht, daß aber zur Wahrung von Recht und Ordnung ein Vorkommnis, ein Geschehen nach einem bestimmten Schema protokolliert werden muß. Dieses Schema heißt Verordnung.

In „Amtshandlung gegen Unsterblichen, das ungemütliche Protokoll über den Aufenthalt Rimbauds in Wien hält der Autor nicht nur den Kern der Geschichte, den Diebstahl der Gepäckstücke Rimbauds. durch den Fiaker Greiffzeug, fest, sondern verwendet die Protokollsprache auch zur Beschreibung der Geschehnisse rund um diesen Diebstahl, zur Erzählung des gesamten Aufenthalts Rimbauds in Wien. Es erweist sich, daß Drachs Protokollsprache nicht diejenige der Naturwissenschaft ist, wo sie die reine Feststellung von Tatsachen bezweckt, auch nicht diejenige der Verwaltung, wo sie die Zweifel der Protokollführer und die Mehrdeutigkeit der Tatsachen mit einschließt, sondern diejenige des Pamphle-tisten, der parodiert, paraphrasiert, ironisiert, verspottet, kurz und gut angreift. Bei Albert Drach ist das Amtsdeutsch ein Mittel der Aggression, deren Objekt im gegenständlichen Fall Wien ist. Die Pointen ergeben sich zwar manchmal aus der Sinnfälligkeit der sprachlichen Wendungen, die neue Zusammenhänge eines Objekts oder einer Gemüts- und Gedankenlage erschließen, zumeist jedoch resultieren sie aus der Massierung. Die Wiederholung, oftmals die Tautologie, nicht die Aussparung und die Ellipse sind die beherrschenden Merkmale dieser Sprache, die nicht wie ein Wasserstrahl gezielt den Gegenstand mitten trifft, sondern ihn wie eine Flut fortspült. Das Gerüst der Geschichte ist das herkömmliche der Exposition, des Konflikts und der Auflösung. Seine festen Punkte werden nicht protokolliert, sondern auf der soliden Basis gekonnten Handwerks beschrieben. Die Unterhaltung — das amüsante Element der Geschichte — ergibt sich nicht aus der Originalität der Form, sondern aus dem Gegensatz von Form und Wirklichkeit. Die Form ist die ständige Anspielung auf Zusammenhänge sprachlicher Art, die dem Leser aus unliterarischen Gebieten seines täglichen Lebens vertraut sind, aus den Verordnungen und Vorschriften, die sein Leben regulieren; die Wirklichkeit ist hier eine novellistische, sie setzt nämlich die ganze Romantik und Psychologie der traditionellen Erzählung voraus — in ihrem Aufbau aus Ortsnachweis, Stimmungsbeschreibung, Konfliktexposition, Handlungsverlauf, Heldenschicksal und bereinigende Auflösung des Konflikts. Es ist eine vertraute Art der Verfremdung, und die Wirksamkeit dieser Verfremdung ist mehrfach verbürgt.

Das Anliegen, dessentwegen Albert Drach seinen Apparat aus Protokoll und Amtsdeutsch einsetzt, ist das Recht des Individuums zur Behauptung gegen das Amt und gegen die Anmaßung des Amtes, das Leben protokollieren zu können, das Recht der individuellen, sich selbst genügenden und aus sich selbst erklärbaren Ratio gegen den in scheinbar logischen Regeln und Anweisungen sich äußernden Irrationalismus der Gesellschaft, das Recht auf sich selbst, ohne gemaßregelt, ohne angewiesen, ohne durch Protokolle und Verordnungen belästigt zu werden. Es ist ein legitimes Anliegen, und Albert Drach transponiert es aus der Welt des Rechts in die Welt der Literatur.

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