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Radikales Denkst

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In der Not der Nachkriegszeit, als in den Gesichtern noch Spuren der Entbehrung und Mutlosigkeit standen, hatte uns Jean-Paul Sartres Erstlingsdrama „Die Fliegen“ (Les mouches) betroffen und aufgewühlt. In der Verneinung weckte es durch den Widerspruch die positiven Zeichen der Zeit. Aus dem Geist der Resistance entstanden, sollte es damals seinen Landsleuten nach dem Zusammenbruch im Zustand selbstmörderischer Depression Vertrauen zu sich selbst geben. Aber der tragische Urstoff der Atriden-Tragödie, Orests Rache für den Mord, den seine Mutter Klytämnestra und ihr Liebhaber Ägist an seinem Vater begangen haben, interessierte Sartre nicht im geringsten als griechisches Thema; seine ätzende, bohrende Dialektik lotet in die Tiefen der Angst und Verzweiflung und der pervertierten Gefühle. Fern dem Pathos, das Hegel am Beispiel der antiken Tragödie als merkwürdige Einheit von Auflehnung und Leiden aufgezeigt hatte, waren „Die Fliegen“ vielmehr ein dramatisch-lebendiges und bei allen philosophischen Abstraktionen spannungsvolles Lehrstück für Sartres Philosophie vom Menschen, der sich aus den traditionellen Bindungen losreißt und durch den Entschluß zu einer Tat — seiner Tat, seinem für ihn ganz aHein begehbaren Weg — frei und verantwortungsvoll wird. Das Ich, das zufällige Selbst als letzte Instanz. Selbst der Gott verliert seine Gewalt über den ..freien“ Menschen jenseits von Gut und Böse. Orest-Sartres Freiheit steht gegen Jupiters pseudoreligiöse Ordnungsmacht.

Die erste Aufführung der „Fliegen“ fand in den Wiener Kammerspielen statt.Mehr als zehn Jahre später brachte das Theater am Parkring das Drama. Nun ist es auf der geräumigen Bühne des Burgtheaters zu sehen. An szenischen und darstellerischem Aufwand können sich die früheren Aufführungen mit der jetzigen nicht messen. Ein namhafter Regisseur, Gustav Rudolf Seltner, leitete die Inszenierung. Gewiß, die Massenszenen, die in flagellantischer Reue sich verzehrenden Bürger von Argos, der einem irren Derwisch gleichende Oberpriester, die immer wieder so fatal an eine Schule für Eurhythmie gemahnenden Szenen der entfesselten Erinnyen konnten auch diesmal nicht überzeugen. -Aber Thomas Holtz-mann war Sartres echter Freiheitsheld Orest, Martha Wallner als Elektra in ihrem Haß eine echte Aufrührerin, die am Ende in kreatürliche Angst und Reue zurückfällt, Blanche Aubry eine läster-lische, hysterische Klytämnestra, Michael Janisch der tückische, angstvolle Ägist, und Theo Lingen ein ironischer nonchalanter Jupiter. Zudem zeigten die großräumigen Bühnenbilder von Hansheinrich Palitzsch den schwärenden Verfall der Unglücksstadt. Es stimmte so vieles — und rührte trotzdem nicht. Ob es am Drama selbst liegt mit seinem etwas langatmigem Anfang und den oft allzu rationalistischen Gesprächen? Den gefährlichen Thesen wie: Der feigste aller Mörder ist der, der bereut! Der Beifall war eher lau und verstärkte sich nur, wenn der Hauptdarsteller und der Regisseur vor dem Vorhang erschienen. Die Frage bleibt offen, ob es sich gelohnt hat, dieses Stück wieder aufzunehmen.

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