'Der Rüssel' wurde 2015 gefunden. Fast wirkt es so, als hätte sich das Stück versteckt, um uraufgeführt zu werden, wenn die Zeit gekommen ist. (Christian Stückl)
Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung wird Wolfgang Bauers verschollen geglaubtes Stück "Der Rüssel" am Wiener Akademietheater uraufgeführt. Die FUR-CHE sprach mit Bauers Biografen Thomas Antonic und Regisseur Christian Stückl über die Aktualität des Stückes.
DIE FURCHE: Beim "Rüssel" handelt es sich um einen Sensationsfund, dessen Uraufführung großes Interesse weckt. Wie ist das Stück im Rahmen des Bauer-Werkes einzuordnen?
Thomas Antonic: "Der Rüssel" ist ein beachtliches Stück. Es ist das erste abendfüllende, das Wolfgang Bauer mit erst 21 Jahren 1962 verfasst hat. Im Vergleich zu anderen Arbeiten aus dieser Zeit und den folgenden abendfüllenden Stücken "Pfnacht" und "Von der Steinschleuder zum Lipizzaner", die beide 1964 entstanden, ist es sowohl in seiner formalen Ausführung als auch thematisch herausragend. Auf seltsame Weise ist das Stück heute hochbrisant.
Christian Stückl: Tatsächlich handelt es sich um eine komische Uraufführung. Wir machen ein Stück, das 56 Jahren gelegen ist und unberührt war, und nun wird es an einer völlig anderen Zeit gerieben. Bauer hat dafür ein klassisches Volkstheater-Setting geschrieben: Es gibt eine Familie, den Pfarrer, den Bürgermeister und einen Geschäftsmann. In diese bekannte Konstellation setzt er nun Afrika hinein und die Frage: Wie weit halten wir all die Veränderungen der Gegenwart aus?
DIE FURCHE: In "Der Rüssel" wird ein Bergdorf in eine tropische Landschaft verwandelt. Als Bauer das Stück verfasste, herrschte noch ein romantisches Afrika-Bild vor. Dieses hat sich in der Zwischenzeit doch stark verändert.
Stückl: Afrika lässt sich aus heutiger Sicht nicht ohne die Flüchtlingskrise sehen. Die Hauptfigur, Florian, hat ein idyllisiertes Afrika-Bild. Er ist überzeugt, etwas Spannendes in das Dorf zu bringen, etwas Großes, Neues, worauf die Gesellschaft gewartet hat. Nicht zufällig wird Florian größenwahnsinnig, als seine Vorstellungen tatsächlich einen Elefanten gebären. Im ersten Augenblick nimmt seine Umgebung die Veränderungen als interessant wahr, aber dann kommt schnell die Angst. Für die Angst steht der Elefant, der eigentlich vollkommen harmlos ist. Sein Rüssel steckt in der Hauswand, so kann er gar niemandem schaden, und dennoch wird er als Unheil bringend erklärt.
Antonic: Besonders deutlich zeigt sich der Widerstand gegen die Veränderungen an der Figur des Kaplans. Er leidet, weil das Kreuz von einer Palme verdrängt wird. Auch gehen die Leute nicht mehr in die Kirche, sie müssen für die neuen Verhältnisse arbeiten. Für den Kaplan ist Florian der Teufel, und nicht zufällig hat ihn Wolfgang Bauer mit roten Haaren ausgestattet und es wird dank seiner Afrika-Fantasie immer heißer im Dorf.
DIE FURCHE: Es ist doch ziemlich seltsam, dass es heute so besonders aktuell ist.
Stückl: Tatsächlich wurde "Der Rüssel" im Jahr 2015 gefunden, als die Flüchtlingskrise an ihrem Höhepunkt war. Fast wirkt es so, als hätte sich das Stück versteckt, um uraufgeführt zu werden, wenn die Zeit gekommen ist. Denn neben der Angst, dass Afrika und der Islam über Europa hereinbrechen, ist das auch die Klimaerwärmung.
Antonic: Der Begriff "Treibhauseffekt" ist in den 1960er-Jahren erstmals aufgetaucht und hat Bauer sehr beschäftigt. Er kritisiert auch in anderen frühen Werken die moderne industrielle Zivilisation, die durch wirtschaftliche Interessen und Tourismus Lebensraum zerstört. Auch im Roman "Der Fieberkopf" spielt Hitze eine wesentliche Rolle.
DIE FURCHE: Ein wesentliches Thema ist auch der Generationenkonflikt.
Antonic: Florian verwirklicht die Träume seines verstorbenen Urgroßvaters, aber der Großvater nimmt ihm das letztlich übel. Zuerst wird Florian als Pionier gefeiert, doch schnell erfährt er Gegenwind und es kommt zu Konflikten, die in Mord und Totschlag enden.
Stückl: Bauer trifft einen heiklen Punkt unserer Gesellschaft, den Umgang mit Fremdem, Neuem. In meinem Dorf etwa gibt es ein Flüchtlingsheim mit ca. 150 Menschen, die man in der Gemeinschaft kaum wahrnimmt, weil es so wenige sind. Dennoch wird fortwährend darüber gesprochen und Angst geschürt. Unlängst hatte ein Dorfbewohner eine Verletzung und behauptete, dass er von einem nordafrikanischen Flüchtling angegriffen wurde. Drei Monate später stellte sich heraus, dass er sich selbst die Schnittwunde zugefügt hat, um Stimmung gegen die Asylwerber zu machen. So sehe ich den Elefanten im Stück als Metapher: Wie die Flüchtlinge in ihrer Einrichtung, so steckt auch er fest, sowohl konkret als auch in den Vorurteilen der Leute. Egal, wie harmlos er ist, er dient in jedem Fall als Projektionsfläche.
DIE FURCHE: Mit den neuen Verhältnissen lässt sich aber auch Geld machen, wie der Kolonialwarenhändler Kuckuck zeigt.
Stückl: Wenn sich Gewinne machen lassen, dann sieht die Sache freilich anders aus. Das zeigt der Tourismus: Da wird in einem fort über das Kopftuch-Verbot gestritten, anderseits stellt Vollverschleierung plötzlich kein Problem dar, wenn es um wirtschaftliche Interessen geht. In Zell am See sind reiche Scheichs willkommen und vollverschleierte arabische Frauen kein Problem. So lange die Kassa klingelt, wird jede Burka (die zugleich woanders verunglimpft wird) gut ausgehalten. Das Phänomen kenne ich auch aus München, wo Modeläden früher schließen, damit die arabischen Frauen nicht gestört werden, wenn sie beim Einkauf ihre Burka ablegen. Solange es dem Tourismus dient, ist man plötzlich tolerant. Dafür steht auch die Figur des Kuckuck. Sofort hat er Kleider aus Rhodesien parat, Tigerfelle und Safarihosen.
DIE FURCHE: Viele Situationen im Stück sind ziemlich absurd, da gibt es etwa Szenen, in welchen mit 900 Karten gespielt wird, und es gibt Regeln, die vollkommen unverständlich sind. Wie lässt sich das szenisch lösen?
Stückl: Das tägliche Kartenspiel steht in meiner Inszenierung für die Bedeutung von Strukturen und Routine. Für den Pfarrer ist es nicht nur schrecklich, dass die Leute nicht mehr in die Kirche gehen, auch sein tägliches Kartenspiel fehlt ihm, denn es gibt ihm Halt und Sicherheit. Die Veränderungen haben seinen Alltag durcheinandergebracht. Bauer zeigt, wie die Figuren an Gewohntem festhalten, dazu gehört eben das tägliche Kartenspiel, dessen absurde Regeln zeigen, worum es hier eigentlich geht, nämlich um Normalität. Dabei ist ihre Normalität eine entsetzliche und der Schlimmste von allen ist der Großvater, der nicht nur ständig mit Rasierschaum herumläuft, sondern auch nichts dabei findet, die Freundin des eigenen Enkelsohnes zu vernaschen.
DIE FURCHE: Könnte die Uraufführung eine Bauer-Renaissance bewirken? Ähnlich wie beim Fund von Ödön von Horváths "Niemand" im Jahr 2015?
Antonic: Was ich mir vorstellen kann, ist, dass diese Uraufführung Anstoß gibt, Wolfgang Bauer wieder ins Bewusstsein zu holen. Es wäre vor allem gewinnbringend, sich späteren Stücken zu widmen, die nach seinen Klassikern wie "Magic Afternoon" oder "Gespenster" entstanden und bislang zu wenig gewürdigt wurden.
Stückl: Welches ist eigentlich das Stück von Bauer, das man wiederentdecken müsste?
Antonic: "Ach, armer Orpheus!" von 1989 zählt meiner Meinung nach zu seinen besten. Oder "Das Lächeln des Brian De Palma", das seit seiner Uraufführung 1991 kein einziges Mal gespielt wurde.
DIE FURCHE: Ließe sich "Der Rüssel" beispielsweise auch im Norden Deutschlands spielen? Wird das dort verstanden?
Stückl: Warum nicht? Das Potenzial ist auf jeden Fall da. Dann müsste man aber aus dem Berg-ein Fischerdorf machen. Die Figuren gehen dann nicht auf Gipfel, sondern auf dem Watt und den Dünen. Afrika in Ostfriesland sozusagen.
Der Rüssel Akademietheater, 20., 24., 26. April